Georgien: Ein Land in der Krise steuert auf den Showdown zu
17. Dezember 2024Wenn man die Lage in Georgien mit einem Wort beschreiben wollte, wären Ausweglosigkeit oder Krise heiße Kandidaten, sagt der unabhängige Politikwissenschaftler Gela Vasadze. Und dies betreffe zurzeit alle Bereiche des Lebens: "Wir sehen eine politische, soziale, wirtschaftliche und moralische Krise, verursacht durch die Regierung", sagt er gegenüber der DW.
Seit Wochen protestieren zehntausende Georgier und Georgierinnen im ganzen Land: zuerst gegen die Ergebnisse der Parlamentswahl Ende Oktober. Dabei gewann die regierende Partei "Georgischer Traum" die parlamentarische Mehrheit. Nach Ansicht der Opposition war die Abstimmung manipuliert. Seit dem vergangenen Wochenende richten sich die Proteste gegen die Wahl des neuen Präsidenten, der zum ersten Mal nicht vom Volk direkt, sondern von einer parlamentarischen Kommission gewählt wurde, in der "Georgischer Traum" wiederum eine - aus der Sicht der Opposition illegitime - Mehrheit hat.
Angeführt werden die Proteste von der amtierenden Präsidentin Salome Surabischwili. Ihr Mandat läuft am 29. Dezember aus. Sie weigert sich aber, den Präsidentenpalast zu räumen, weil ihr Nachfolger Michail Kawelaschwili illegitim sei.
Dem Protest fehlt die institutionelle Rückendeckung
Doch ungeachtet der prominenten Unterstützung und der Hartnäckigkeit der Protestierenden blieben politische Verhältnisse bislang unverändert und der regierende "Georgische Traum" schafft Fakten und festigt weiter seine Macht. Der Politologe Vasadze nennt dafür zwei Gründe: zum einen hätten die Behörden sehr hart durchgegriffen. Zum anderen fehle den Straßendemonstrationen die institutionelle Unterstützung. "Wir sehen heftige Reaktionen der Gesellschaft, aber keinen politischen Prozess", so Vasadze. "Nicht die Opposition kämpft zurzeit gegen die bestehende Ordnung, sondern der aktive Part der Gesellschaft."
Doch allein der Wille des Volkes reiche nicht aus, um den Status Quo zu ändern. "Die Oppositionspolitiker wissen das", stellt Vasadze mit Bedauern fest. "Aber sie wissen nicht, was sie als Nächstes tun. Sie wollen Neuwahlen, aber sie wissen nicht, wie sie zu diesen Neuwahlen kommen können. Niemand sieht einen realen Mechanismus, die Machtverhältnisse zu ändern."
Eine völlige Ungewissheit beklagt auch Korneli Kakachia vom Georgischen Institut für Auslandspolitik in Tiflis. Im Gespräch mit der DW warnt er: "Die Situation ist sehr fragil." Niemand wisse zurzeit, was am 29. Dezember geschehen werde, wenn der neue Präsident ins Amt eingeführt wird, aber die bisherige Staatschefin den Präsidentenpalast wie angekündigt nicht freiwillig räumt.
Drei Szenarien für Georgien
Kakachia nennt drei mögliche Szenarien: "Wenn sich nichts ändert, wird Georgien so etwas wie Serbien." Damit spielt er auf den Kurs der Regierung in Belgrad an, die offiziell einen EU-Beitritt anstrebt, sich aber gleichzeitig mit seiner russlandfreundlichen Politik widerspreche.
Das zweite, "schlimmere" Szenario nennt Kakachia "Belarusisierung Georgiens". Damit meint er eine Entwicklung, in der die Regierung Proteste mit zunehmender Brutalität niederprügeln und Demonstranten inhaftieren lässt, wie in Belarus nach der Präsidentschaftswahl 2020 geschehen. Die Folgen könnten wie in Belarus "mehr Isolation und mehr Autoritarismus" sein.
Als drittes Szenario sieht Kakachia eine Art zweite "Rosenrevolution". Im Jahr 2003 hatten junge georgische Reformpolitiker in Georgien friedliche Proteste unter dem Motto "Rosen statt Kugeln für die Feinde" organisiert. Die Revolution verlief unblutig und gipfelte in einem gewaltfreien Regierungswechsel. Voraussetzung dafür, sagt Kakachia, sei gewesen, dass die Regierung dem Druck der Straßen nachgegeben habe. Doch das zeichne sich diesmal nicht ab. Gleichzeitig berge auch dieses Szenario Risiken. So wäre eine Verschlechterung der Beziehungen zu Russland gefährlich. Moskau würde, glaubt Kakachia, alles tun, um Georgien zu schaden - durch Wirtschaftsembargos oder durch Eingriffe in die Arbeit der neuen Regierung.
Letzte Chance am 29. Dezember?
Renata Skardziute-Kereselidze vom Georgischen Institut für Auslandspolitik sieht für die Pro-EU-Kräfte in Georgien noch eine Chance. Diese, glaubt sie, bereite sich auf "eine Kulmination der Proteste" am 29. Dezember vor: "Wir haben erlebt, dass die Proteste immer diverser wurden und nicht nur in der Hauptstadt Tiflis, sondern auch in anderen Teilen des Landes stattfanden." Jetzt komme es auf die Unterstützung seitens EU und USA an. Deswegen laufe zurzeit so etwas wie "ein Wettrennen um die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, ein Wettbewerb der Narrative". Die Opposition habe es gleichwohl deutlich schwerer, sich weiterhin ins Gespräch zu bringen, weil sie jetzt - anders als zu Beginn der Proteste - eher im Untergrund agiere.
Tatsächlich ebben die Straßenproteste derzeit deutlich ab. Viele Georgier, die die Regierungspartei "Georgischer Traum", gewählt haben, fürchten zum einen, dass sich die Situation in ihrem Land wie in der Ukraine 2014 entwickeln könnte. Damals haben die Menschen in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw auf dem Maidan-Platz monatelang gegen den regierenden pro-russischen Präsidenten Viktor Janukowitsch protestiert. Am Ende wurde Janukowitsch zwar gestürzt, die Proteste endeten aber blutig.
Zum anderen glauben die Anhänger des "Georgischen Traums", dass nur die Regierungspartei einen potenziellen Krieg mit Russland verhindern würde. Tatsächlich gelten die Partei und insbesondere ihr Gründer, der Milliardär Bidsina Iwanischwili, als russlandfreundlich. Frieden mit Russland war ihr zentrales Wahlversprechen.