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Geplante Menschenjagd? Neandertaler als Kannibalen

28. November 2025

Neue Analysen von Knochen aus der belgischen Goyet-Höhle zeichnen ein brutales Bild: Neandertaler sollen gezielt Frauen und Kinder fremder Gruppen gejagt und verspeist haben. Sind solche Deutungen seriös?

Frau schaut von hinten auf eine Neandertaler-Rekonstruktion
Die Forschung deutet darauf hin, dass Neandertaler Kannibalen waren. Über die Gründe dafür kann jedoch nur spekuliert werden.Bild: Will Oliver/PA/picture alliance

Sie jagten nicht nur Rentiere, Hirsche und Auerochsen, sondern womöglich auch die Schwächsten ihrer eigenen Art: Eine neue Studie legt nahe, dass Neandertaler gezielt Frauen und Kinder fremder Gruppen gefangennahmen, töteten und verzehrten - möglicherweise, um die Fortpflanzungschancen der Rivalen zu schwächen. Wie sehr diese Deutung der Realität entspricht, ist jedoch umstritten und beruht auf sehr spekulativen Interpretationen weniger Knochenfunde.​

Ein Massaker in der Höhle von Goyet

Die in der Fachzeitschrift "Scientific Reports" veröffentlichte Studie basiert auf rund 100 stark fragmentierten Neandertaler-Knochen aus einer Höhle in Belgien, der Troisième caverne von Goyet. Die analysierten Knochen sind etwa 41.000 bis 45.000 Jahre alt.

Spuren von Schnitten und Schlägen an den Knochen zeigen ein Muster, das von der Zerlegung von Pferden und Rentieren bekannt ist - ein starkes Indiz für sogenannten "Ernährungs-Kannibalismus".​

Die untersuchten Knochen stammten von Frauen und Kindern, die wie Tiere zerlegt und verspeist wurdenBild: cc-by-nature.com

DNA-Analysen, Isotopenmessungen und Formvergleiche der Knochen ergeben ein auffälliges Bild: Identifiziert wurden mindestens sechs Individuen, darunter vier jugendliche oder erwachsene Frauen sowie zwei Kinder, alle eher klein und zierlich. Zudem unterscheiden sich ihre chemischen Signaturen von Neandertalern benachbarter Fundstellen. Das legt nahe, dass sie nicht zur lokalen Gruppe gehörten.​

Selektive Beute statt Zufall

Mit Modellrechnungen prüften die Forschenden, wie wahrscheinlich es ist, zufällig genau diese Kombination von Opfern zu finden. Sie kamen zu dem Schluss, dass ein solcher Alters- und Geschlechtsmix eine natürliche Todesursache extrem unwahrscheinlich machtDiese Überrepräsentation von Frauen und Kindern deuteten sie stattdessen als Hinweis darauf, dass gezielt besonders verletzliche Mitglieder benachbarter Gruppen erbeutet wurden.​

Die analysierten Knochen stammen aus den Kalksteinhöhlen von Goyet in der Provinz Namur in Belgien Bild: Philippe Clém/Arterra/alimdi/imageBROKER/picture alliance

In der Studie wird sogar die Hypothese formuliert, dass hinter der Auswahl der Opfer eine Art "Fortpflanzungspolitik" stehen könnte: Wer Frauen und Kinder einer anderen Gruppe tötet, trifft deren künftiges Nachwuchspotenzial besonders empfindlich. Die Autorinnen und Autoren selbst betonen jedoch, dass solche Rückschlüsse auf Motive nur als vorsichtige Deutungen zu verstehen sind - wirklich belegbar ist diese Erklärung keineswegs.​

Hunger, Rituale - oder Kriegsstrategie?

Bereits Funde aus der Höhle von Krapina in Kroatien, aus Moula-Guercy in Frankreich sowie aus El Sidrón und Zafarraya in Spanien zeigten entfleischte und aufgespaltene Knochen, die ähnlich wie Tierreste behandelt wurden.

Durch die Analyse der Knochen konnte inzwischen eindeutig nachwiesen werden, dass Neandertaler das Fleisch von anderen Neandertalern aßen. In früheren Arbeiten wurden dafür vor allem zwei Erklärungen diskutiert: extreme Nahrungsknappheit in Krisenzeiten oder ritualisierte Handlungen im Umgang mit Toten.​

Laut der Forschenden sprechen im Falle der Höhle von Goyet die zahlreichen Tierknochen mit denselben Bearbeitungsspuren allerdings dagegen, dass die Verspeisung der Artgenossen aus Not geschah. Gleichzeitig weisen andere Neandertaler-Fundstellen im gleichen Raum eher auf Bestattungen und auf eine würdevollere Behandlung der Toten hin.

Klimaschwankungen und Konkurrenzdruck

Ein weiterer Deutungsrahmen sind Umwelt- und Klimaveränderungen: Für eine französische Höhle an der Rhône etwa wird diskutiert, dass eine Warmphase vor rund 120.000 Jahren die Landschaft von offener Steppe in Wald verwandelte und wichtige Großtiere vertrieb, was Kannibalismus als Notstrategie begünstigt haben könnte.

Auch Modellstudien zur Neandertaler-Population legen nahe, dass selbst leichte Verschlechterungen der Ernährungsbedingungen die Fruchtbarkeit und damit das Überleben der kleinen Gruppen empfindlich treffen konnten.​

Die neue Goyet-Studie verknüpft diesen ökologischen Druck mit wachsender Konkurrenz: In der fraglichen Zeit taucht Homo sapiens bereits in Teilen Europas auf. Die Autorinnen und Autoren spekulieren, dass damit territoriale Konflikte zwischen Neandertalergruppen zunahmen. Selektiver Kannibalismus an fremden Frauen und Kindern könnte in diesem Szenario eine gewaltsame, symbolträchtige Form solcher Auseinandersetzungen gewesen sein. 

In der Studie wird das Verhalten von Schimpansen als Referenz für gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Gruppen derselben Art herangezogen. Ob territoriale Konflikte, der Kampf um Ressourcen oder um die Konkurrenz zu schwächen: Schimpansen starten gezielt tödliche Angriffe auf Mitglieder benachbarter Gruppen.

In einigen dokumentierten Fällen kommt es im Anschluss an die Angriffe auch zu aggressivem Umgang mit dem Körper des Opfers bis hin zum Verzehr von Körperteilen.​

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Zwischen Fakten und Fiktion

Die Studie macht deutlich, wo die Grenze der aktuellen Forschung verläuft: Zwischen nüchterner Rekonstruktion von Knochenstrukturen auf der einen und erzählerischen Rekonstruktionen von Verhalten, Motivation und Kriegsstrategien auf der anderen Seite klafft ein weiter Raum an Unsicherheit.

Handelte es sich tatsächlich um schwächere Opfer, die gezielt ausgeschaltet wurden, um das Fortpflanzungspotenzial einer oder mehrerer konkurrierender Gruppen zu schwächen? Gegenüber der DW bezeichnete der französische Paläobiologe Hervé Bocherens diese Interpretation als die "wahrscheinlichste". Bocherens ist Co-Autor der Studie und Leiter der Arbeitsgruppe Biogeologie an der Universität Tübingen.  

Wo verläuft die Grenze zwischen nüchterner Rekonstruktion von Knochenfragmenten und erzählerischen Rekonstruktionen von Verhalten und Motiven? Bild: SWR

Allerdings besteht bei Interpretationen immer die Gefahr, dass Rückschlüsse in die Fundstücke hineininterpretiert werden, die womöglich nicht der Realität in einer eiszeitlichen Höhle in Belgien entsprachen. Das bedeutet: Aus welchem Grund die Frauen und Kinder in der Goyet-Höhle starben, weiß niemand. Hungersnöte, Gelegenheitsbeute, Rache oder soziale Rituale können als Motivationen nicht ausgeschlossen werden. 

Unabhängig von der konkreten Studie warnt Prähistoriker und Archäologe Ulrich Veit seit Jahren vor Überinterpretationen. Er ist Professor für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Leipzig. Gewagte Interpretationen können der Archäologie und Paläontologie zwar eine große Aufmerksamkeit verschaffen, so Veit, aber dabei werde auch übertrieben. "Andere sind zurückhaltender, auch weil sie sehen, wie politisch verführbar das Fach Archäologie in der Vergangenheit war", so Veit gegenüber der DW.

Veit spielt damit auf die politische Instrumentalisierung der Archäologie - besonders im Nationalsozialismus - an. Damals wurden unter anderem archäologische Funde so gedeutet, dass sie die "germanische Ursprünge, angebliche Rassenüberlegenheit oder historische Ansprüche auf Territorien belegen sollten. Einen Diskurs über die Vielzahl anderer Interpretationsmöglichkeiten gab es nicht.

"In jedem Fall sind die Theorien nur Modelle oder Vorschläge der Deutung sehr komplexer Befunde auch mittels moderner Analogien bzw. Anleihen bei anderen Wissenschaften". Wie archäologische Funde wie diese wahrgenommen und gedeutet werden, hängt laut Veit nicht zuletzt auch vom Zeitgeist ab.

Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit
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