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Ein Buch, ein Film - eine deutsch-polnische Recherche

Sabine Peschel
11. März 2020

Monika Sieradzka und ihre Kolleginnen haben ein Buch und einen Film über den Kinderraub der Nazis in Polen publiziert. Im Interview erzählt die Warschauer DW-Leiterin von ihrer Recherche und den Schicksalen der Opfer.

Wanderausstellung "Geraubte Kinder"
Bild: picture-alliance/R. Haid

Deutsche Welle: Warum ist der Kinderraub der Nazis immer noch "ein weißer Fleck der deutschen Geschichtsschreibung", wie Ihr Autorenkollege Artur Wróblewski titelt?

Monika Sieradzka: Bei der Recherche zu diesem Thema, die ich zuletzt auch für die Doku "Kinderraub der Nazis" zusammen mit meiner deutschen Kollegin Elisabeth Lehmann unternommen habe, ist mir ein deutlicher Unterschied zwischen Polen und Deutschland aufgefallen. In der deutschen Geschichtsschreibung ist es tatsächlich ein weißer Fleck, aber nicht so in Polen. Allerdings ist der Kinderraub im Vergleich zu den großen Gräueltaten der Nazis im besetzten Polen ein vergleichsweise klein erscheinendes Verbrechen.

Ein weiterer Grund ist natürlich, dass die meisten Kinder, die aus Polen entführt worden sind, sich damals dessen gar nicht bewusst waren. Auch wenn es Kinder gab, die schon sechs oder acht Jahre alt waren, waren die meisten noch sehr klein. Ein großer Teil von ihnen hat sich schnell in den deutschen Familien adaptiert. Und viele haben tatsächlich sehr liebevolle und gute Familien in Deutschland gefunden.

Nur ein Bruchteil der Kinder hatte eine Ahnung, dass sie aus Polen stammten. Davon erfuhren sie nur, wenn jemand von der Familie, aus der Verwandtschaft oder der Nachbarschaft sie darauf hingewiesen hat, dass die Menschen, die sie für ihre engste Familie hielten, nicht ihre biologischen Eltern waren. Erst dann haben die Kinder angefangen zu suchen. Es waren nur wenige, die überhaupt den Wunsch hatten, nach Spuren ihrer Herkunft zu suchen. Und noch weniger sind damit an die Öffentlichkeit gegangen.

Die Journalistin und Dokumentarfilmerin Monika Sieradzka hat lange recherchiertBild: Privat

Lässt sich beziffern, wie viele Kinder in der Nazizeit geraubt wurden? In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass es zwischen der Schätzung in Deutschland mit 20.000 entführten Kindern und der in Polen einen großen Unterschied gibt. Was haben Sie da gefunden?

Die polnischen Schätzungen aus der Nachkriegszeit beliefen sich auf ca. 200.000 polnische Kinder. Die Zahl ergab sich aus mehreren Quellen: Es gab Familien, die ihre Kinder gesucht haben, weil sie vermutet haben, dass die Kinder nach Deutschland entführt worden sind. Das wurde aber nie bewiesen, weil viele dieser Kinder nie gefunden wurden.

Die zweite Gruppe waren Kinder der polnischen Zwangsarbeiterinnen in Deutschland. Ihnen wurden die Kinder nach der Geburt sofort weggenommen, in Heime oder an deutsche Familien weitergegeben.
Die Gruppe, zu der wir verlässliche Informationen haben, sind die Kinder, die im Rahmen einer von SS-Reichsführer Himmler - aufgrund seines Rassenwahns - initiierten systematischen Aktion entführt worden sind. Er hatte angeordnet, dass Kinder aus den besetzten Gebieten auf ihr arisches Aussehen hinuntersucht wurden. Solche Kinder wurden den Familien weggenommen und aus Waisenhäusern entführt. Sie landeten in Kinderheimen und Anstalten, die zum "Lebensborn" gehörten.

Was verbirgt sich in diesem Zusammenhang hinter dem Begriff Germanisierung?

Dabei ging es vor allem darum, dass man die Identität der Kinder veränderte. Das Geburtsdatum und der Name wurden geändert, zum Beispiel wurde aus einem Bukowski ein Bucher, aus einer Witaszek eine Wittke. Die Namen wurden eingedeutscht, und den Kindern wurde die deutsche Sprache oft mit sehr brutalen Methoden aufgezwungen.

Sie durften kein Polnisch mehr sprechen, sie sollten vergessen, dass sie aus polnischen Familien kamen. Die deutschen Familien, die sie aufnehmen wollten, sollten glauben, dass es sich um Kinder aus deutschen Familien gehandelt hat, die außerhalb des "Dritten Reichs" lebten, sogenannte "Volksdeutsche", die von polnischen Partisanen ermordet worden wären.

Jozef Sowa, einer der Protagonisten aus dem Film, am Grab seiner Eltern, die eben dort bei Czestochowa von SS-Schergen dahingeschlachtet wurdenBild: DW/M. Sieradzka

Woher kam denn der Rassenwahn von SS-Reichsführer Heinrich Himmler, dass es notwendig sei, "gutes Blut" nach Deutschland zu holen?

"Gutes Blut", das gab es in seiner nationalsozialistischen Vision eigentlich nur in Deutschland. Aber Himmler war der Meinung, dass "gutes Blut" außerhalb des Deutschen Reiches doch auch irgendwelche deutschen Wurzeln haben müsse. Nach seiner größenwahnsinnigen Überzeugung sollte das Deutsche Reich wachsen und ganz Europa irgendwann zu Groß-Deutschland gehören. Das Reich brauchte Nachschub – auch aus den besetzten Ländern.

Welche Rolle spielten da die Lebensborn-Heime?

Der Verein "Lebensborn e.V." war schon 1935 entstanden. Zuerst diente er der Hilfe für schwangere deutsche Frauen, die dort ihre Kinder zur Welt bringen wollten.  Aber dann, während des Zweiten Weltkrieges bzw. nach der Anweisung von Himmler und den entsprechenden Verordnungen des Rasse-und Siedlungshauptamtes, dass man Kinder aus besetzten Regionen entführen sollte, sind die Lebensborn-Heime auch zu Germanisierungs-Anstalten geworden.

In Deutschland, zum Beispiel in Bad Polzin in Pommern an der Ostseeküste, gab es ein Lebensborn-Heim, wo einige unserer Protagonisten untergebracht waren. Die Lebensborn-Heime wurden in dieser Zeit teilweise zu Erziehungsanstalten, in denen der Schwerpunkt auf dem Erlernen der deutschen Sprache lag. Der Begriff Zuchtanstalten ist unter Historikern umstritten. In jedem Fall war in dieser Zeit die Germanisierung eine ihrer Hauptaufgaben.

Die Kinder, die den Zwangsarbeiterinnen weggenommen wurden, kamen auch in Heime, in denen die meisten von ihnen starben. Wie kann man sich erklären, dass die Verantwortlichen für den Kinderraub und für diese Heime in den Nürnberger Prozessen freigesprochen wurden? Oder, wenn sie verurteilt wurden, dann für andere Verbrechen?

Diese Frage habe ich mir auch oft gestellt. Ich glaube, das hängt zusammen mit der Tendenz in der Nachkriegszeit, dass man nur einen Bruchteil der Nazis überhaupt zur Rechenschaft gezogen hat. Die Lebensborn-Heime wurden als Fürsorgeinstitutionen eingestuft. Die Alliierten hatten kein großes Interesse daran, da tiefer zu bohren.

Ab 1948 hat Polen die Kinder, soweit sie erfassbar waren, nach Polen zurückgeholt. Was bedeutete die Rückführung für die Betroffenen?

Für viele war das wie eine zweite Entführung. All die Schicksale, die ich kennenlernen durfte, bergen diese zweite Tragödie in sich. Fast alle, mit denen ich gesprochen habe, haben über die Rückkehr nach Polen als eine sehr schlimme Erfahrung gesprochen, denn sie kamen als "deutsche" Kinder zurück. Sie sprachen kein Polnisch mehr.

Man kann sich vorstellen, welche Einstellung in Polen gegenüber den Deutschen direkt nach dem Krieg geherrscht hat. Die Kinder wurden gemobbt, schrecklicherweise auch von Verwandten, die unter der deutschen Besatzung oft sehr gelitten hatten. Auch die biologischen Eltern haben diese Kinder manchmal als fremd empfunden. Das war ziemlich tragisch.

Der Verein "Geraubte Kinder - vergessene Opfer" kämpft für Anerkennung der OpferBild: DW/Monika Sieradzka

Nicht wenige der entführten Kinder haben auch noch als Erwachsene fast ein Leben lang vergeblich nach ihren Wurzeln gesucht. Was bedeutete das für ihre Identität?

Man muss von gebrochenen Identitäten sprechen. Es gibt viele, die es verdrängt haben. Aber diejenigen, die sich damit auseinandersetzen, werden damit eigentlich nie fertig.

Wurden die Opfer entschädigt?

Nein. Hermann Lüdeking, der ein Leben lang vergeblich nach seinen Eltern gesucht hat, und auch der Verein "Geraubte Kinder, vergessene Opfer" haben schon vor Jahren versucht, das Thema auf die politische Agenda des Deutschen Bundestags setzen zu lassen. Der Petitionsausschuss des Bundestages hat die Forderung oder die Bitte, die Frage der Anerkennung irgendwie gesetzlich zu lösen, abgelehnt. Danach sind Hermann Lüdeking und der Verein vor Gericht gegangen. Auch das wurde abgeleht. 

Monika Sieradzka leitet das Studio der Deutschen Welle in Warschau. Sie war Autorin für Dokumentarfilme der BBC, ARD und des ZDF und ist Mitbegründerin des Festivals für Journalistische Kunst in Torun/Polen.

Das Interview führte Sabine Peschel.

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