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Politik

Gerechtigkeit für Bosnien

20. November 2020

Nach über drei Jahren Krieg einigten sich die drei Konfliktparteien am 21. November 1995 in Dayton/Ohio auf ein Friedensabkommen für Bosnien und Herzegowina - und eine Verfassung, die das Land bis heute lähmt.

Timeline Zerfall Jugoslawien Alija Izetegovic Franjo Tudjman und Slobodan Milosevic Treffen in Dayton USA
Die Präsidenten Izetbegović (Bosnien), Tudjman (Kroatien) und Milošević (Serbien) bei den Verhandlungen in Dayton/OhioBild: picture-alliance/dpa

Nachdem alle Versuche gescheitert waren, den seit Frühjahr 1992 tobenden Krieg in der ex-jugoslawischen Republik Bosnien und Herzegowina zu beenden, verstärkte die US-Regierung unter Präsident Bill Clinton Anfang 1994 ihre Aktivitäten auf dem Balkan. Im März brachte sie die bosnische Bevölkerungsgruppen der Bosniaken - so nennen sich die bosnischen Muslime seit 1993 - und Kroaten dazu, eine Föderation zu bilden.

Das Föderations-Modell diente ab diesem Moment der "Kontaktgruppe" (bestehend aus Politikern und Diplomaten der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Russlands und Deutschlands) als Grundpfeiler für weitere Verhandlungen. Sie schlug vor, die "ethnischen Säuberungen" weiter Teile Bosniens durch die bosnischen Serben anzuerkennen und ihnen 49 Prozent des Landes zu überlassen.

Dabei lebten in Bosnien laut der Volkszählung aus dem Jahre 1991 nur 31 Prozent Serben. Später wurde sogar die Umsiedlung der verschiedenen Ethnien in Kauf genommen, nur um die zwei "homogenen" Gruppen - Serben auf der einen, Bosniaken und Kroaten auf der anderen Seite - besser auseinanderzuhalten.

Opfer der "ethnischen Säuberung": Gefangene der bosnischen Serben in einem Lager in Westbosnien 1992Bild: Getty Images/AFP/A. Durand

Die USA, die sich lange gegen die Anerkennung der serbischen Eroberungen gestellt hatten, vollzogen Anfang 1995 eine Kehrtwende und stimmten der Aufteilung Bosniens zugunsten der serbischen Seite zu. Auch Deutschland schloss sich dem Paradigmenwechsel zuletzt an. Deshalb wurden im "Dayton-Abkommen" letztlich die Aggressoren belohnt - und die Angegriffenen bestraft. Hier kann man nicht von einem gerecht ausgehandelten Friedensabkommen sprechen.

Die Dayton-Verfassung

Am 14. Dezember 1995 wurde das vom 1. bis zum 21. November in Dayton/Ohio ausgehandelte Friedensabkommen von den damaligen Staatsoberhäuptern der am Krieg beteiligten Staaten, dem bosnischen Präsidenten Alija Izetbegović, seinem kroatischen Pendant Franjo Tudjman und dem Serben Slobodan Milošević in Paris unterschrieben. Damit erhielt Bosnien zugleich eine neue Verfassung.

Symbol für die Einheit Bosniens: Die Nationalbibliothek in der Hauptstadt Sarajevo wurde im Krieg 1992-95 zerstörtBild: Imago/J. Eis

Der bosnische Staat blieb erhalten, wurde jedoch in zwei "Entitäten" geteilt: die "Föderation Bosnien-Herzegowina" mit mehrheitlich kroatischer und muslimischer Bevölkerung und die "Republika Srpska" mit vorwiegend serbischer. Hinzu kam ein "Sonderverwaltungsgebiet" in der Stadt Brčko im Osten des Landes. Zudem wurde das Amt eines "Hohen Repräsentanten" (engl. "Office of the High Representative", kurz: OHR) der internationalen Gemeinschaft geschaffen, der die Implementierung des zivilen Teils des Abkommens überwachen sollte.

Sonderrechte für "konstituierende Völker"

Um Spannungen und mögliche Auseinandersetzungen zu vermeiden, wurde den drei "konstituierenden Völkern" (engl. constituent people) - also den Bosniaken, Kroaten und Serben - ein Vetorecht zum Schutz ihrer "nationalen Lebensinteressen" (engl. vital national interests) eingeräumt. Das bedeutet auch, dass die bosniakischen, kroatischen und serbischen Mitglieder der Präsidentschaft und des gesamt-bosnischen Parlaments jede Entscheidung blockieren können, wenn sie ihre Volksgruppe für gefährdet halten.

Zwei Bosniakinnen trauern um Angehörige, die beim Genozid von Srebrenica von bosnischen Serben ermordet wurdenBild: Reuters/D. Ruvic

Die bosnischen Serben bekamen nach fast vier Kriegsjahren mit mehr als 100.000 Opfern, über zwei Millionen Flüchtigen, Massenvergewaltigungen, Kriegsgefangenenlagern, dem Genozid in Srebrenica, die Hälfte Bosniens zugesprochen. Die begangenen Kriegsverbrechen konnten und können bis heute nur mühsam aufgearbeitet werden. Das Dayton-Abkommen hat hier die Hauptakteure der Kriegsverbrechen bevorteilt.

Besser als Krieg

Trotz allem haben bei der Vertragsunterzeichnung alle aufgeatmet. Die Internationale Gemeinschaft sammelte nach fast vier langen Jahren den Scherbenhaufen der eigenen Schwächen aus dem Bosnien-Krieg auf - leider für viele Menschen zu spät. Und die Menschen in Bosnien mussten endlich nicht mehr täglich Angst um das eigene Leben haben.

Gornji Vakuf-Uskoplje, Zentralbosnien, November 2019: Folgen des Bosnienkriegs, 24 Jahre nach seinem EndeBild: DW

Gleichzeitig musste sich die Bevölkerung - unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit - nun neu orientieren. Flüchtlinge hatten nun das Recht, in ihre Herkunftsorte zurückzukehren, also auch in neu geschaffene, ethnisch definierte Entitäten, in denen sie zur Minderheit gehören. Viele gaben nach jahrelangen erfolglosen Versuchen, sich dort zu integrieren, auf, verkauften ihr Eigentum und zogen fort. Das Land teilte und "säuberte" sich weiter entlang völkischer Linien.

Nation statt Demokratie

Zudem nahm die Dayton-Verfassung allen Nicht-Bosniaken, Nicht-Kroaten und Nicht-Serben im Land demokratische Rechte. So können Angehörige der "Minderheiten" - knapp 4 Prozent der Bevölkerung - bis heute nicht für die höchsten Ämter im Staat kandidieren, da diese den konstituierenden Völkern vorbehalten sind.

Dayton hat Bosnien unregierbar gemacht. In meiner Zeit als Hoher Repräsentant (2006-2007) habe ich mich eingehend mit dem Friedens-Abkommen und der darin enthaltenen Verfassung beschäftigt. 2006 habe ich versucht, Letztere zu ändern - leider erfolglos.

Hoffnung auf Reformen

1995 wussten alle Beteiligten in Dayton, dass sowohl der Friedensvertrag als auch die Verfassung kompliziert und unvollkommen waren. Aber sie hofften, wie mir US-Chefunterhändler Richard Holbrooke damals sagte, dass das Abkommen im Laufe der Zeit Schritt für Schritt gemäß den Erfordernissen reformiert werden würde, auch mit Hilfe des Hohen Repräsentanten.

US-Unterhändler Holbrooke (Mitte) mit US-Militärs im Vorfeld der Dayton-VerhandlungenBild: Radoslav Grujic/dpa/epa/picture-alliance

Doch innerhalb der letzten 25 Jahre ist das niemandem gelungen: nicht der Internationalen Gemeinschaft und nicht den Bosniern selbst. Man hätte, wie der damalige Leiter der Deutschen Delegation in Dayton, Wolfgang Ischinger, meinte, eine verpflichtende Revisionsklausel einbauen müssen, sodass eine Überarbeitung nach ungefähr drei Jahren hätte erfolgen müssen.

Die Fehler der Internationalen Gemeinschaft

Heute ist Bosnien, der größte Verlierer der sogenannten Jugoslawien Kriege, vor allem instabil: ein Rechtsstaat existiert kaum, die Korruption ist auf einem hohen Niveau, Armut und soziale Unsicherheit steigen stetig, und seit Jahren verlassen immer mehr junge, qualifizierte Menschen ihre Heimat. Das Dayton-Abkommen und die darin enthaltene Verfassung gelten weiter unverändert, untergraben demokratische Rechte und führen so das Land immer weiter weg von der EU.

Bosnien und Herzegowina 25 Jahre nach Dayton: Armut und soziale Unsicherheit steigen stetigBild: DW/B. Sapcanin

Die Internationale Gemeinschaft spielt dabei weiterhin keine konstruktive Rolle. Sie ist entzweit, desinteressiert und macht seit Jahren die gleichen Fehler wie in den 1990ern: Sie toleriert die aggressive und nationalistische Rhetorik vieler Politiker in Bosnien, selbst wenn diese unverhohlen verurteilte Kriegsverbrecher glorifiziert. Mit dem Dayton-Abkommen wurde der Weg für nationalistische und sezessionistische Kräfte zementiert, die seit Jahrzehnten ein Auseinanderbrechen des bosnischen Staates anstreben. Man könnte den Hohen Repräsentanten mit seinen Vollmachten zu Hilfe rufen - aber man tut es nicht.

Verantwortung übernehmen

Gerade heute muss man an die Verantwortung der Internationalen Gemeinschaft appellieren, sich wieder ernster mit Bosnien und Herzegowina zu befassen, um einen Ausweg aus dem Status Quo zu finden. Oder lassen wir das Land jetzt einfach zerfallen?

Vor 25 Jahren sagte Bosniens damaliger Präsident Izetbegović nach der Unterzeichnung in Paris: "Und zu meinem Volk sage ich: Dies mag nicht ein gerechter Friede sein, aber er ist gerechter als die Fortsetzung des Krieges. In der Situation, wie sie ist, und in der Welt, wie sie ist, konnte ein besserer Friede nicht erreicht werden. Gott ist unser Zeuge, dass wir alles in unserer Macht Stehende getan haben, damit das Ausmaß an Ungerechtigkeit für unser Land und unser Volk vermindert wurde."

Wir wissen aber alle, dass es ohne Gerechtigkeit keinen andauernden Frieden geben kann. Es wird Zeit, dass Bosnien Gerechtigkeit erfährt.

Bild: Oliver Rüther

Prof. Dr. Christian Schwarz-Schilling war von 1982 bis 1992 CDU-Bundesminister für Post und Telekommunikation. Er trat aus Protest gegen die Haltung der Bundesregierung im Bosnien-Krieg zurück. 2006/07 amtierte er als Hoher Repräsentant und EU-Sonderbeauftragter in Bosnien und Herzegowina.