Gergiev: "Wir haben unser eigenes Bayreuth!"
17. Oktober 2012 DW: Was ist im Mariinski-Theater im Wagner-Jahr 2013 zu erwarten?
Valery Gergiev: Wagners Konzertreise nach Russland 1863, als er insgesamt sechs Konzerte in Moskau und St. Petersburg gab, bleibt unvergessen. Er hat russische Opernliebhaber inklusive Mitglieder der Zarenfamilie begeistert, und ihm wurde genau der Posten angeboten, den ich jetzt bekleide: Generalmusikdirektor von St. Petersburg. Und was nur wenige wissen: Er hat zugesagt. Allerdings erreichte ihn kurz nach der Rückkehr aus Russland das einmalige Angebot des Königs Ludwig von Bayern. Pech für uns. Was Ihre Frage angeht: Wir legen schon großen Wert darauf, Wagners Jubiläum würdig zu begehen. An unserem Haus werden sowohl der "Ring" als auch andere Wagner-Inszenierungen zu sehen sein. Im Herbst nächsten Jahres muss es auch eine "Meistersinger"-Premiere geben. Damit wird unser Wagner-Kanon komplett.
Kein Komponist ist so präsent in Ihrem Repertoire wie Richard Wagner. Was verbindet Sie persönlich mit diesem Komponisten?
Ich spiele auch sehr viel russische und italienische Musik, aber Wagner hat tatsächlich einen besonderen Platz in meinem Repertoire. Das hat einen persönlichen Grund: Als ich ein 28-jähriger Anfänger war, durfte ich im Mariinski-Theater den "Lohengrin" aufführen. Das war für mich ein grandioses Ereignis: diese Macht, diese Wucht, dieses wunderbare Orchester - und gleichzeitig eine alles durchdringende Zärtlichkeit und Erhabenheit der Gestalten von Elsa und Lohengrin. Das hat mich als Dirigenten komplett verändert und gleichzeitig mein Schicksal an diesem Haus entschieden. Nach einer so prägenden Arbeit hat das Orchester mich ganz anders wahrgenommen. So fing meine Reise durch die Ländereien Richard Wagners an. Heute führe ich neun Wagner-Opern auf.
Als Sie Intendant des Theaters wurden, führten Sie zuerst "Parsifal" auf – ein Höhepunkt in Wagners Werk. Warum?
Wir hatten die Chance, den ersten "Parsifal" überhaupt im modernen Russland zu machen. Die Arbeit an dieser Partitur hat das Orchester ruckartig nach vorne gebracht. Wir waren alle von dieser Musik ergriffen und begaben uns auf die Suche nach diesem besonderen, heiligen "Parsifal"-Klang. Dem "Parsifal" folgten dann "Der fliegende Holländer", "Lohengrin", "Der Ring", "Tristan und Isolde". Dennoch ist das Projekt "Wagner am Mariinski-Theater" noch längst nicht abgeschlossen.
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wurde Wagner in Russland mehr gespielt als in Deutschland. Glauben sie an eine Renaissance des russischen "Wagnerianismus" in dieser Intensität?
Ja. Aber sie kommt nur dann, wenn wir unseren eigenen Weg gehen und auf keinen Fall die von mir sehr geschätzten Wagner-Inszenierungen in Stuttgart, München oder Berlin kopieren. Wer kopiert ist verdonnert, ständig der Zweite zu sein.
Im Mariinski-Theater ist mittlerweile eine ganze Generation von Wagner-Vokalisten herangewachsen. Der erste Versuch eines Mariinski-Sängers, den Wagner-Olymp in Bayreuth zu erklimmen, ist allerdings schief gegangen. Evgeny Nikitin musste wegen vermeintlicher Nazi-Tattoos noch vor der Premiere zurücktreten.
Was Evgeny Nikitin in Bayreuth widerfahren ist, schmückt die Bayreuther Festspiele meiner Meinung nach keinesfalls. Ich habe immer noch nichts über die eigentliche Position der Festspielleitung erfahren. Nikitin ist ein äußerst begabter Sänger. Der hat überhaupt nichts mit der Nazi-Symbolik am Hut, erst recht nicht mit der Nazi-Ideologie. Seine Familie hat im Zweiten Weltkrieg stark gelitten; beide Großväter sind an der Front gefallen. Er kommt aus Petersburg - einer Stadt, die wie keine andere unter Nazi-Verbrechen gelitten hat. Ich glaube, meine Kollegen in Bayreuth haben das Schicksal des jungen Sängers aus Russland nicht einfühlsam und vielleicht auch nicht ehrlich genug behandelt. Aber Nikitin wird auf keinen Fall zum Opfer in diesem Spiel werden. Und er wird auf keinen Fall aufhören, Wagner-Opern zu singen, zumal er das so gut kann. Ich glaube, das haben mittlerweile auch in Deutschland die meisten Profis erkannt. So wird Evgeny Nikitin weiter in Berlin, in München, an der Metropolitan Opera in New York und natürlich hier im Mariinski-Theater singen.
Also streben Sie keine Aussöhnung mit Bayreuth an, keine "Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen" zwischen dem "Imperium Mariinski Theater" und den Wagner-Festspielen?
Ich denke nie speziell über Bayreuth nach. Und wissen Sie warum? Bayreuth findet fast zeitgleich mit unserem Festival "Sterne der weißen Nächte" statt. Seinerzeit war auch von meiner potenziellen Teilnahme an den Bayreuther Festspielen mit dem "Parsifal" die Rede. Ich werde es aber wohl nie im Leben tun können. Wir haben hier unser eigenes Bayreuth.
Das Gespräch führte Anastassia Boutsko
Valery Gergiev hat es bis jetzt als einziger Theaterleiter Russlands geschafft, die Wagner-Tradition in seinem Haus wiederzubeleben. Zur Sowjetzeit galt Wagner in Russland als unerwünscht, wenn nicht sogar als ganz verboten. Schuld daran war sowohl der Missbrauch von Wagners Musik durch den Nationalsozialismus als auch der verdächtige Individualismus seiner Helden.
Seit der russischen Uraufführung von "Parsifal" 1998 in Petersburg arbeiten Gergiev und sein Mariinski -Theater konsequent an einer Wagner-Renaissance. Heute ist der fast komplette Wagner-Kanon an der renommierten Bühne zu sehen. Hier wurde auch der erste und einzige russische "Ring" nach der Oktoberrevolution geschmiedet. Dabei knüpft das Theater an die legendäre Wagneranbetung an, die Russland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erlebte.