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PolitikNahost

Weiterhin gefährlich: der "Islamische Staat"

24. Dezember 2020

Trat der "Islamische Staat" vor einigen Jahren noch als mächtige Terrororganisation auf, hat er sich heute weitgehend in den Untergrund zurückgezogen. Doch seine Anhänger vermag er weiter zu Anschlägen zu mobilisieren.

Syrien, Al-Hasakeh: Flüchtlingslager  Al-Hol
Hort potentieller Dschihadisten: das Flüchtlingslager al-Hol in Nordsyrien Bild: Getty Images/AFP/D. Souleiman

Sie sind zurück in Deutschland, die zwei Frauen und zwölf Kinder, die das deutsche Außenministerium zuletzt aus dem Gefangenenlager Al-Hol im Norden Syriens holte. Eine humanitäre Geste, aus Sicht der kurdischen Selbstverwaltung aber auch eine Entlastung ihrer Sicherheitskräfte.

Denn in dem Lager halten sich rund 64.000 Personen auf, von denen der Großteil aus dem Gebiet stammt, das einst die Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) besetzte. Bei den meisten Gefangenen handelt es sich einem UN-Bericht zufolge um syrische und irakische Staatsbürger. Knapp 9500 aber kommen woanders her, viele von ihnen aus Europa.

Jede Person, die das Lager verlässt erleichtert den Sicherheitsbehörden die Arbeit. Auf diese Erleichterung dringen sie seit Monaten, verbunden mit dem Hinweis, dass zahlreiche Insassen des Lagers weiterhin extremistisches Gedankengut pflegten und nach wie vor eine potentielle Bedrohung darstellten. Könnten diese Personen etwa während eines Aufstandsentkommen, so die Warnung, würden sie sich umgehend wieder dem IS oder anderen dschihadistischen Gruppierungen anschließen.

Ungewisse Zukunft: Gefangene IS-Kämpfer in einem Gefängnis in Hassaka in Nordost-SyrienBild: picture-alliance/ZUMAPRESS/C. Huby

Eine geschwächte Organisation

Doch gelänge es den potentiellen Terroristen, sich wieder dem IS anzuschließen, träfen sie auf eine Organisation, die nur noch ein Schatten ihrer selbst ist. Der Nimbus ihrer früheren Jahre ist verloren, weder organisatorisch noch symbolisch entfaltet sie die Dynamik, die sie bis zu ihrer Zerschlagung in den Jahren 2017/18 hatte.

Im Vergleich zu seinem Zustand von vor fünf Jahren sei der IS deutlich geschwächt, sagte Peter Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King's College London, der DW. Die Idee des 2014 ausgerufenen Kalifats übe keine Faszination mehr aus. Zudem werde der IS insbesondere im Irak streng überwacht: "Dort herrscht ein enormer Druck, der es ihm erschwert, sich zu organisieren, an neue Waffen zu kommen und auch neue Mitglieder zu rekrutieren. All dies schwächt die Bewegung in ihren Ursprungsländern - Irak und Syrien - enorm."

Verlust der Finanzquellen

Zu einem ähnlichen Befund kommt auch der Terrorismusforscher Jassim Mohamad, Betreiber der Webseite "europarabtc.com". "Schätzungen aus dem Inneren der irakischen Regierung zufolge gibt es derzeit rund 3500 Kämpfer im Irak und vielleicht 4000 Kämpfer in Syrien", sagte Mohamad der DW. "Sowohl im Irak wie auch in Syrien hat sich der IS zurückgezogen. Er ist nicht mehr in der Lage, anspruchsvolle Operationen durchzuführen."

Zwar versuche der IS weiterhin, sich Waffen zu beschaffen, so Mohamad. Aber Informationen der irakischen Regierung wiesen darauf hin, dass die Organisation nur noch über leichte Waffen verfügt. "Außerdem kann man davon ausgehen, dass der IS sein Beziehungsnetz und seine Finanzquellen weltweit zu allergrößten Teilen verloren hat."

Geschwächt, aber dennoch präsent: der IS in Europa. Polizeieinsatz nach dem Attentat von Nizza, Oktober 2020Bild: Gaillard Eric/abaca/picture alliance

"Kleine, mobile Gruppen"

Entschließe der IS sich dennoch zu Aktionen, dann seien diese für gewöhnlich begrenzt: "Meist werden sie von kleinen, mobilen Gruppen ausgeführt, die in der Regel nicht mehr als zehn Personen umfassen", sagt Mohamad. Außerdem fänden diese Attacken überwiegend in entlegenen Regionen, außerhalb der Städte statt. "Es geht dann darum, schnelle Operationen auszuführen, etwa die Blockade von Straßen oder Angriffe auf militärische Grenzanlagen."

Weil auch die Finanztransaktionen des IS immer enger überwacht würden, seien auch seine ökonomischen Fähigkeiten sehr begrenzt. "Das hat dazu geführt, dass die Operationen des IS weltweit abgenommen haben."

Neue Techniken der Mobilisierung

Dennoch besteht kein Anlass zur Entwarnung. Denn anderswo, etwa in Europa, sei der IS weiterhin aktiv, wenngleich er seine Taktik geändert habe, sagt Peter Neumann. Zwar sei er derzeit auch hier zu großen Aktionen nicht in der Lage, auch könne er nicht mehr wie noch vor einigen Jahren auf militärisch ausgebildete Mitglieder mit konkreter Kampferfahrung setzen. Stattdessen aber komme es zu kleineren Angriffen von Einzeltätern wie zuletzt in Paris, Nizza, Wien und Dresden. "Auf diese Weise will der IS zeigen, dass er weiterhin präsent ist und immer noch zuschlagen kann. Dabei sucht er zielgerichtet neue Motive der Mobilisierung - so zum Beispiel die Diskussion um die Mohammed-Karikaturen."

Für die Rekrutierung ist oftmals gar kein sonderlicher Aufwand nötig. Um Anhänger zu gewinnen, reichen oft einige mit pathetischer Musik unterlegte und aus suggestiven Bildsequenzen zusammengesetzte Videos. Diese Cyber-Rekrutierung ist noch einfacher und oft auch wirkungsvoller als die Arbeit einschlägiger Koranschulen und extremistischer Gruppierungen, die sich etwa rund um einige Moscheen bilden, die von gleichgesinnten Predigern geleitet werden. So verläuft die Radikalisierung oftmals unbemerkt.

Krieg und Chaos als Boden des Terrorismus: Szene aus Tripolis, Libyen, 2020Bild: picture-alliance/XinHua/A. Salahuddien

Präsenz in Afrika

Zudem sei der IS auch in Afrika, sagt Jassim Mohamad. "Vor allem in West- und Nordafrika stärkt der IS gerade seine Fähigkeiten." So mache er sich vor allem das Chaos in Libyen zunutze. Dabei geht es dem IS neben ideologischer Mobilisierung vor allem um den Ausbau der Schmuggelrouten nach Subsahara-Afrika. Kriminelle und ideologische Motive gingen dabei fließend ineinander über.

Zwar habe Al-Kaida in der Region derzeit noch einen größeren Einfluss", sagt Jassim Mohamad. "Insgesamt kann man aber davon ausgehen, dass terroristische Aktivitäten in Westafrika trotz der unternommenen Anstrengungen zunehmen werden."

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika