Geschwister-Scholl-Preis für "Kritik der schwarzen Vernunft"
30. November 2015"Die Logiken der Verteilung der Gewalt im globalen Maßstab verschonen keine Region der Erde mehr und auch nicht die im Gang befindliche gewaltige Operation der Entwertung der Produktivkräfte." Es ist eine nüchterne Feststellung, die der Philosoph und Historiker Achille Mbembe im Epilog seines Buches "Kritik der schwarzen Vernunft" trifft. Ein Trittstein auf dem Weg zu einer Vision, der zeigt, wie aktuell das Werk des kamerunischen Theoretikers ist, denkt man die vielen Kriege und Konflikte in der Welt oder die zahllosen arbeitslosen jungen Menschen vor allem in Afrika.
Für diesen geschärften "Blick auf eine globalisierte Weltgesellschaft, die nicht nur Waren und Kapital verschiebt, sondern auch Menschen und Arbeitskraft" erhielt Achille Mbembe am Montag Abend (30. 11.2015) in München den Geschwister-Scholl-Preis. Mit diesem Preis wird jährlich ein Buch ausgezeichnet, "das von geistiger Unabhängigkeit zeugt und geeignet ist, bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern".
Eine Welt universeller Gerechtigkeit
Letztlich ist es eine einfache, aber alles berührende Frage, um die es dem politischen Philosophen geht: "Die Frage der Welt". Was ist die Welt? Wie sind "die Beziehungen zwischen ihren verschiedenen Teilen"? Wie soll man in ihr leben? Wem gehören ihre Ressourcen? Was bewegt oder bedroht sie? Diese Fragen könnten tatsächlich aktueller nicht sein. Mbembes Antwort ist seine Vision einer universellen Gemeinschaft: "Es gibt nur eine Welt, und auf die haben wir alle ein Anrecht." Doch bevor wir uns in dieser gemeinsamen Welt als Menschen ein Zuhause schaffen können, müssen wir uns mit der Geschichte der Verletzungen und Wunden befassen, so seine These. "Restitution und Reparation bilden den Kern der Möglichkeit der Schaffung eines gemeinsamen Bewusstseins der Welt, das heißt der Herstellung universeller Gerechtigkeit."
Die Welt wird schwarz
Hier setzt der Vordenker des Postkolonialismus mit seiner Welterklärung an. Mbembe ist an der Sorbonne in Paris ausgebildet, nach Stationen in Berkeley, Yale und anderen renommierten Institutionen in den USA lehrt er inzwischen im südafrikanischen Johannesburg an der Universität Witwatersrand. Sein 2013 im französischen Original erschienenes Buch, das er selbst als Essay bezeichnet, ist eine mäandrierende Abhandlung über Rassismus und Kapitalismus, so akademisch wie poetisch in der Ausformulierung seiner Thesen.
"Schwarze Vernunft" – wer da zunächst an Konzepte denkt, die sich unter "Black is beautiful" zusammenfassen lassen, liegt komplett falsch. Mbembe erkennt ein "Schwarzwerden der Welt" zu einer Zeit der "europäischen Dämmerung". Und er versteht unter "schwarz" die "ganze subalterne Menschheit": Das schließt das Heer unterbezahlter Industriearbeiter in China ebenso ein wie die Millionen Flüchtlinge, die alles verloren haben, oder europäische Arbeitsmigranten in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Mbembe untersucht die Entwicklung dieser permanenten "Abspaltung" und "Kodierung des sozialen Lebens in Normen, Kategorien und Zahlen", und er geht dabei mehr als 500 Jahre zurück. Ins Zentrum seiner thesenreichen Abhandlung stellt er den Begriff des Negers, ein Wort, das heutzutage gewöhnlich in Anführungszeichen gesetzt nur als negative Chiffre gebraucht wird, und in seinem Gefolge das Konzept des Rassismus.
Die Verdammten dieser Erde
Im Sinne Mbembes ist "Neger" ein materielles und phantastisches Konstrukt, das drei Phasen durchlaufen hat. Die erste (vom 15. bis 19. Jahrhundert) war die der organisierten Entrechtung durch den transatlantischen Sklavenhandel. In der zweiten kämpften die "entrechteten Wesen" ab Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Abschaffung der Apartheid vor etwa 20 Jahren für ihre Befreiung und die Emanzipation als "vollwertige Subjekte der Menschenwelt". Die dritte Phase ist die, in der wir leben, "die der Globalisierung der Märkte, der Privatisierung der Welt unter der Ägide des Noeoliberalismus", eine Phase seit Beginn des 21. Jahrhunderts, "die von Computerindustrien und Computertechnologien beherrscht wird".
Ohne den "Neger", das weist Mbembe über 330 Seiten hinweg nach und zitiert dafür viele Zeugen wie den Reisenden Alexis de Toqueville oder den französischen Vordenker der Entkolonialisierung Frantz Fanon, hätte sich der Kapitalismus nicht in der Weise entwickeln können, wie er es tat – und weiterhin tut, indem er Menschen noch immer zur Ware macht:
"Als Macht des Fangens, des Ergreifens und Polarisierens war der Kapitalismus stets auf das Instrument der Rasse angewiesen, um die Ressourcen auszubeuten. Das war gestern so. Und es ist heute so, da er sich daran macht, sein eigenes Zentrum zu rekolonisieren, und die Aussichten auf ein Schwarzwerden der Welt deutlicher als jemals zuvor zutage treten."
Ein Buch für die globalisierte Weltgesellschaft
Immanuel Kant gab mit seinem erkenntnistheoretischen Hauptwerk "Kritik der reinen Vernunft" 1781 die entscheidenden Stichworte der Aufklärung. Sein Erbe Achille Mbembe schuf mit seiner Arbeit über den Afropolitanismus nichts weniger als die theoretische Grundlage für ein "Projekt der kommenden Welt", einer Welt, die "befreit ist von der Last der Rasse und des Ressentiments".
Der Geschwister-Scholl-Preises wird vom Landesverband Bayern des Börsenvereins des deutschen Buchhandels gemeinsam mit der Stadt München im Rahmen des Literaturfests München vergeben. Die Auszeichnung erinnert an die von den Nationalsozialisten ermordeten Widerstandskämpfer Hans und Sophie Scholl. Sie ist mit 10.000 Euro dotiert. 2014 ging der Preis an den Snowden-Vertrauten Glenn Greenwald für sein Buch "Die globale Überwachung. Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen".
Achille Mbembe: "Kritik der schwarzen Vernunft", aus dem Französischen von Michael Bischoff, Berlin (Suhrkamp) 2015, 313 Seiten