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Politik

Flüchtlinge: Gestrandet in Serbien

2. Dezember 2016

Die Balkanroute beherrscht zwar nicht mehr die Schlagzeilen, aber es gibt sie noch. Es ist eine Route der Ausgebremsten, die mit jedem Tag verzweifelter werden. Sie sammeln sich unter anderem in Belgrad.

Serbien Flüchtlinge in Belgrad
Bild: DW/N. Rujevic

"Wie alt bist du?" "Ich bin 15." "Reist du allein?" "Ja, allein." "Und keiner schützt dich?" "Nein, keiner." "Hast du Familie in Deutschland?" "Nein. Meine Familie hat mich hierher geschickt. Denn du weißt, wie die Situation in Afghanistan ist. Mein Vater wollte nicht, dass ich Landwirt werde wie er."

Sohail ist ein zierlicher Junge, große kluge Augen und pubertär spärlicher Schnurrbart. Er ist einer von Tausenden in Serbien gestrandeten Flüchtlingen. Sie sind alle auf der Balkanroute ausgebremst, weil sie einfach zu spät kamen, als die Zäune, Grenzkontrollen und Abschiebungen in Europa zur "Mode" wurden. Serbien macht fleißig mit und hat kaum eine andere Wahl: Nachbarländer machten auch dicht, Ungarn lässt lediglich etwa 20 Menschen pro Tag über die Grenze. Sohail hat da keine Chance. Obwohl niemand mit Sicherheit sagen kann, nach welchen Maßstäben die Ungarn entscheiden, wer weiter darf, eins ist klar: Es werden fast ausschließlich Familien durchgelassen. 

Flüchtlinge in Serbien

01:45

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Der afghanische Teenager fand in einem verlassenen Lagerhaus hinter dem Belgrader Hauptbahnhof Unterschlupf, wie hunderte weitere. Das morsche Backsteingebäude riecht bohrend nach Urin und Rauch, nach Schimmel und Schweiß der vielen zurückgelegten Kilometer. Haufenweise liegt Müll überall und dazwischen schlafende Menschen unter Decken, Lagerfeuer, bettelnde Männer. Die Belgrader Etappe der Qual eben. "Hier kann man eigentlich nicht leben. Es ist aber alles, was wir haben", sagt Sohail unbekümmert. Seit einem Monat ist er hier.

Doch warum meldet er sich nicht bei den Behörden, so dass er in ein Asylzentrum gebracht werden kann? Es sind in Serbien zwölf an der Zahl, und die bieten Platz für etwa 7.000 Menschen. Gewiss keine Luxusunterkünfte, aber wenigstens warm und trocken und Essen gibt es auch. Nein, dorthin wolle Sohail auf keinen Fall. Gerüchte machen die Runde, dass alle Camps überfüllt seien, nur das in Preševo nicht - tief im Süden, direkt an der Grenze zu Mazedonien. "Wir haben gehört, von dort werde man nach Mazedonien abgeschoben. Meine Freunde haben das erlebt", sagt der Junge.

Das Märchen ist dahin

Radoš Đurović aus dem Belgrader Hilfszentrum für Asylsuchende - einer NGO - bestätigt, dass das Camp in Preševo eine geschlossene Einrichtung ist - keiner der dort untergebrachten Menschen darf raus. "Die Ausrede dafür lautet, dass sich Läuse und Räude in dieser Unterkunft verbreitet hätten. Aber man darf niemandem deswegen die Bewegungsfreiheit nehmen, das verbietet auch die serbische Verfassung", ärgert sich Đurović im DW-Gespräch. Außerdem seien die Lager gerammelt voll, die Hygiene dort mangelhaft und die Bürokratie zu träge, wenn es darum geht die Flüchtlinge unterzubringen.

Đurović ist einer der wenigen aus der Helferszene, die öffentlich Kritik üben. Viele haben Angst, denn Anfang November hat der Staat allen Hilfsorganisationen die Verteilung von Gütern auf der Straße verboten - sonst riskieren sie, den Zugang zu Asylzentren zu verlieren. Dahin ist das serbische Märchen des Vorjahres, als man in Belgrader Parks überall Freiwillige sah, die Suppe und traditionelles Blätterteiggebäck verteilten, und als die Bürger tonnenweise Klamotten sammelten. Die Empathie wurde verbraucht, und die Regierung spielt nun auf Härte. Im Vokabular der Offiziellen kommt das Wort "Flüchtling" nicht mehr vor. Stattdessen wird von "ökonomischen Migranten" geredet.

Das Lagerhaus ist Unterkunft für jene, die kein Geld für Schlepper habenBild: DW/N. Rujevic

Die Grenze zu Bulgarien wird auch von der Armee überwacht. Diejenigen, die doch eine Lücke finden, solle man unbedingt in Asylzentren unterbringen, sagt der serbische Flüchtlingskommissar Vladimir Cucić. Die Migranten hätten draußen nichts zu suchen und somit gehörten informelle Siedlungen wie das alte Lagerhaus geräumt. "Die Methode ist immer einfach - genauso wie die Bahnhöfe in Budapest, das Lager Idomeni oder der ´Dschungel´ von Calais geräumt wurden. Migranten müssen weg von den Belgrader Straßen - das ist der erste Schritt", sagte Cucić jüngst.

Unsichtbare Menschen

Heuchlerisch sei das, erwidert der Menschenrechtler Đurović. "Mit solchen Statements bombardiert, ändert auch die serbische Öffentlichkeit ihre Meinung. Man glaubt zunehmend, dass diese Menschen lieber draußen frieren als die angeblich ausgezeichnete Bedienung in Lagern zu genießen." Mit restriktiver Politik treibe man Wasser auf die Mühlen der Schlepperbanden, so Đurović weiter. "Es sind regelrechte Korporationen geworden. Auch einige Serben nutzen die Gelegenheit, schnelles Geld zu machen. Die Schmugglernetzwerke sind nicht zu knacken."

Auch in Belgrad sind Schlepper aktiv, berichten mehrere Quellen der DW. Ein NGO-Mitarbeiter, der ständig im Kontakt mit Flüchtlingen steht, meint, dass es nur in der Hauptstadt viele Tausende "unsichtbare Menschen" gebe. "Sie sind in privaten Wohnungen, entweder weil sie etwas Geld haben oder weil sie dank Schleusern ein Versteck gefunden haben. Es sieht so aus, als toleriere die Polizei solche Machenschaften; immerhin verlassen einige das Land mit Hilfe der Schleuser", sagt dieser Mann, der seinen Namen nicht publiziert sehen möchte. Die Preisliste ist bunt und schwer zu durchblicken. Mehrere Ansprechpartner sagen, dass zum Beispiel der Weg aus Mazedonien nach Serbien 300 bis 500 Euro kostete.

Ungarn lässt nur noch 20 Flüchtlinge pro Tag hineinBild: Picture-Alliance/Z. Mathe/MTI via AP

Das Bahnhofsdepot hingegen bietet Obdach für jene, die selbst von Schleppern nur träumen können. Für mittellose Menschen wie Zeeshan Khan aus dem pakistanischen Peschawar, die es über die grüne Grenze auf eigene Faust in die EU schaffen wollen. "Ich möchte nach Frankreich, Italien, Deutschland, egal wohin", sagt der 22-Jährige, auf dessen Strickmütze die stilisierte Aufschrift Iron Maiden prangt. "Die ungarischen und kroatischen Beamten fangen Flüchtlinge, die Polizeihunde beißen die Hände und Finger ab. Ein Freund von mir wurde in Kroatien aufgegriffen, man hat ihm das Geld und das Handy weggenommen."

Zeeshan will es trotzdem versuchen, denn auf dem Balkan wächst die Verzweiflung täglich. In den letzten Wochen las man in Zeitungen darüber, dass zwei Gruppen von Migranten im Zentrum von Belgrad aufeinander losgingen, mit Messern - ein Afghane starb dabei. Ein anderer erhängte sich unweit von einem Asylzentrum, nachdem er mehrmals versucht hatte, irgendein westliches Land zu erreichen - ohne Erfolg. Ein Dritter überlebte den starken Stromschlag nur knapp, als er auf dem Zugdach versteckt nach Ungarn einreisen wollte.

"Nicht nur Transit"

Mit einem Auge schaut man nach Bulgarien und Mazedonien, wo Tausende auf die Gelegenheit warten, nach Serbien zu gelangen. Oder nach Griechenland, wo mittlerweile 60.000 Menschen ausharren - und ferner auch in die Türkei, wo Millionen Flüchtlinge derzeit nur vom Flüchtlingsdeal mit Brüssel zurückgehalten werden. "Die Europäische Union hat die eigenen Prinzipien verraten", sagt der serbische Ombudsmann Saša Janković der DW. Die serbische Anpassung an die restriktive Flüchtlingspolitik sei nicht schön, aber realistisch. Doch es wird nicht ewig so bleiben können, meint Janković. "Wir in Serbien werden verstehen müssen, dass wir nicht nur ein Transitland bleiben können. Die Welt ist im Umbruch, es sind Millionen auf der Flucht."

Unterschlupf für Flüchtlinge in einem verlassenen Lagerhaus hinter dem Belgrader Hauptbahnhof Bild: DW/N. Rujevic

 

Der 15-jährige Afghane Sohail interessiert sich wenig für die Geopolitik. Mit der Idee, in Serbien zu bleiben, kann er nichts anfangen. Er möchte nur weiter, weg aus diesem stinkigen Lagerhaus zwischen dem Bahnhof und dem Fluss Save. "Wir möchten sofort gehen. Denn der Winter kommt", sagt er fast nebenbei. Die Tage sind im Herzen des Balkans noch sonnig, die Nächte aber eiskalt. 

 

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