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Politik

Gesucht: Ideen gegen die Stadt-Land-Kluft

Richard A. Fuchs
26. September 2018

Deutschland ist reich - aber nicht überall. Es gibt Boom-Regionen, wo Arbeit und Wohnraum knapp sind. Und es gibt ländliche Gebiete, wo junge Menschen, Ärzte und Zuversicht fehlen. Eine Kommission soll das ändern.

Deutschland Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse"
Bild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

In Deutschland gilt das offizielle Ziel, überall annähernd gleichwertige Lebensverhältnisse zu haben. Das steht sogar im Grundgesetz. Doch dieses Ziel scheint in Gefahr, heute vielleicht mehr denn je. Das merkt man bereits daran, mit welchem Sicherheitsaufwand eine Expertenkommission geschützt werden muss, die zu diesem Thema Ideen entwickeln will. Es ist Mittwochnachmittag im Berliner Stadtteil Moabit – vor einem Altberliner Industriegebäude aus rotem Backstein, das zur trendy Kongress-Location umgebaut wurde. Wer zwei Sicherheitsschleusen und zahlreiche Personalchecks passiert und sich nicht von den Scharfschützen auf umstehenden Gebäuden abschrecken lässt, der kann an diesem Nachmittag erleben, wie die Expertenkommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" ihre Arbeit aufnimmt.

Die Bundesregierung hatte das Gremium ins Leben gerufen, um Ideen zu entwickeln, wie die Schere zwischen Boom-Regionen auf der einen Seite und abgehängten Gegenden auf der anderen Seite geschlossen werden kann. Beim Auftakt dabei sind neben der Kanzlerin auch drei Minister, zahlreiche Ministerpräsidenten und viele Repräsentanten von Kommunen und Behörden. Bis zur Sommerpause im kommenden Jahr sollen sechs Arbeitsgruppen konkrete Vorschläge ausgearbeitet haben, wie die Bundesregierung dem Ziel des Grundgesetzes wieder näherkommen kann, das die Politik auffordert, zur "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" beizutragen.

Geballte Politikprominenz bei der Auftaktveranstaltung zur Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" in Berlin. Bild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

Seehofer: Kommission ist "Herzstück der Heimatpolitik"

Innenminister Horst Seehofer (CSU), der die Arbeit in den kommenden Monaten leiten soll, will das Gremium als "Herzstück der Heimatpolitik" verstanden wissen. "Wir wollen, dass alle Menschen gut leben können, und zwar dort, wo sie leben wollen", gab der Innenminister zu Protokoll. Und das klang nach Tatendrang und Umsetzungslust. Also alles das, was Beobachter zuletzt aus den Kreisen der CDU/CSU- und SPD-Regierungskoalition vermisst hatten. Mehrere Wochen hatte sich die Koalition im Dauerstreit verhakt. Mal ging es um Differenzen bei der Asyl- und Migrationspolitik, mal um Personalfragen beim Inlandsgeheimdienst. Immer im Zentrum des Streits: der Innenminister.

Zurück zur Sachpolitik: Bei der Eröffnung zeigten sich die Dauer-Kontrahenten Merkel und Seehofer freundlich und gelöst. Bild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

Jetzt also soll die Suche nach einem neuen Zusammenhalt in der Gesellschaft auch die zerrüttete Regierung wieder ein Stück enger zusammenrücken lassen. Bei der Auftaktveranstaltung herrschte zumindest Harmonie und Gestaltungswille. Themen stehen ohnehin genügend auf der Agenda. Darunter: Wie kommt das schnelle Internet ins letzte Dorf? Wie stellt man eine gute Arztversorgung in Gebieten sicher, wo kaum noch ein Mensch wohnen will? Und, das genaue Gegenteil: Wie können überfüllte Großstädte bezahlbar und lebenswert bleiben? Nur drei von unendlich vielen Fragen, auf die die Kommission Antworten finden soll, um Landflucht, Bevölkerungsschwund und überhitzte Boom-Regionen wieder ins Gleichgewicht zu bringen.  

Abgehängt sein - das hat viele Gesichter

Was es bedeutet, wenn Menschen in ländlichen Regionen genauso wie in Städten sich abgehängt fühlen, das verdeutlicht ein Gespräch am Rande der Konferenz. Die Protagonisten: Eine Rettungssanitäterin aus Bayern und der Mitarbeiter einer Berliner Sicherheitsfirma. Die Sanitäterin treibt das Thema der Kommission um. "Bei uns im Bayerischen Wald kriegen sie für die Häuser und Grundstücke keinen Cent mehr, weil dort niemand wohnen will." Darauf antwortet der Mann aus dem Berliner Raum: "Und wir haben immer mehr Kollegen, die jeden Tag eine Stunde und noch viel mehr nach draußen pendeln müssen, weil du in Berlin einfach keine Wohnung mehr kriegst."

Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU), ebenfalls Teil der Expertenkommission, formulierte mit Blick auf diese Lebenswirklichkeit das Ziel der Kommissionsarbeit so: "Der Wohlstand muss bei den Menschen ankommen". Dabei seien ländliche Räume nicht dazu verdammt, Verliererregionen im globalen Wettbewerb um Talente und Köpfe zu sein, sagt Hans, und bemüht einen weitschweifenden Vergleich. "Das Silicon Valley war auch mal eine abgehängte Region, und das würde heute sicherlich keiner mehr behaupten."

Hat dieser Junge gleich gute Bildungschancen wie ein Kind aus einer reicheren Nachbarschaft? Bislang heißt es leider zu oft: mieser Stadtteil, schlechte Schule. Bild: picture-alliance/blickwinkel/W.G. Allgoewer

Wo die Demokratie in Gefahr ist

Dass die Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Arm und Reich und zwischen Hoffnungsfrohen und Verzweifelten immer größer zu werden scheint, das ist damit auch bei den aktuellen Regierungsparteien angekommen. Der Blick über den Atlantik auf die Ursachen des Wahlerfolgs von US-Präsident Donald Trump und die Umfragerekorde der rechtspopulistischen Partei Alternative für Deutschland haben die Berliner Politiker wachgerüttelt. Wahlforscher gehen davon aus, dass besonders Menschen in abgehängten, ländlichen Regionen mit ihrer Protestwahl ein Ventil gesucht und gefunden haben. Dass in Deutschland aktuell ähnliche Trends sichtbar sind, zeigen die fremdenfeindlichen Ausschreitungen der letzten Wochen an Orten wie Chemnitz, Köthen oder Cottbus.

Familienministerin Franziska Giffey will die Suche nach "gleichwertigen Lebensverhältnissen" deshalb auch als Demokratieförderung verstanden wissen. Es gehe nicht nur um die Reparatur von Straßen und Brücken, sondern um "Stellen in unserem Land, wo die Demokratie in Gefahr ist." Ziel müsse es sein, dass die Menschen wieder "stolz auf ihre Heimat sein können, egal wo sie wohnen." An einer Mitgestaltung der Bürger wurde im Rahmen dieser Kommission allerdings nicht gedacht. Statt eine Expertenkommission in Berlin über Monate Vorschläge ausarbeiten zu lassen, hätte die Regierung auch Bürgergespräche und Runde Tische in den Regionen organisieren können. Davon ist an diesem Tag nicht die Rede.

Marode Brücken, Tunnel und Straßen: Ob eine Region abgehängt ist, das erkennt man schnell am Zustand der Infrastruktur. Bild: picture alliance/dpa/B. Marks

Einige Tage zuvor war Kanzlerin Angela Merkel in ihrem Videopodcast auf die wachsende Kluft zwischen Gewinner- und Verlierer-Regionen eingegangen. Sie kündigte an, mit konkreten Verbesserungen das Vertrauen der Menschen in die Politik zurückgewinnen zu wollen. So seien der Ausbau des Breitband-Internets und das Gute-Kita-Gesetz zwei Schritte, um die "allgemeine Zufriedenheit mit den jeweiligen Lebensbedingungen" zu steigern, so Merkel damals. Innenminister Horst Seehofer sagt an diesem Nachmittag ähnliches, allerdings mit mehr bayrischem Pathos. Er wolle nicht zu viel versprechen, aber bei dieser Kommissionsarbeit müsse schon ein "richtig großer Wurf" rauskommen. Dann verschwand der Innenminister durch die Mitte des Saals mit den Worten: "So, und jetzt muss ich wieder zurück in den Bundestag."

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