Gewalt an Schulen: Angriffe auf Lehrer
3. September 2023Die Sommerferien in fast allen deutschen Bundesländern gehen zu Ende. Die Klassenzimmer füllen sich wieder. Doch damit könnte auch die Gewalt in die Schulen zurückkehren - selbst gegen Lehrer. Die Zahlen seien alarmierend, die Situation an den Schulen "beängstigend", sagt Gerhard Brand im Interview mit der DW. Er ist Bundesvorsitzender der zweitgrößten Lehrergewerkschaft; Verband Bildung und Erziehung (VBE). Im vergangen Herbst hatte der Verband eine repräsentative Studie erstellen lassen. Befragt wurden Schulleitungen. Fokus der Studie: Gewalt gegen Lehrkräfte. Und die nimmt zu.
Fast zwei Drittel der befragten Schulleitungen meldete zurück, dass es in den letzten fünf Jahren Fälle psychischer Gewalt an ihren Schulen gegeben habe. Also beispielsweise Bedrohungen oder Belästigungen. In fast einem Drittel aller befragten Schulen kam es zu körperlichen Angriffen auf Lehrkräfte. Das Landeskriminalamt in Niedersachsen beispielsweise registrierte für 2022 einen Anstieg bei Delikten von Körperverletzungen gegen Lehrkräfte um 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Ähnlich die Lage im ostdeutschen Bundesland Sachsen-Anhalt. Das dortige Innenministerium registrierte 104 Straftaten gegen Lehrer. Davon waren 43 Fälle von Körperverletzung und 45 Fälle von Bedrohungen.
Todesdrohung im Klassenzimmer
Schon vor einiger Zeit hatte ein Lehrer, der anonym bleiben will, der Deutschen Welle geschildert, was ihm in einer Deutschstunde passierte, als er einen Streit zwischen zwei Schülern schlichten wollte. Einer von ihnen griff zu einem Cutter-Messer, das zuvor im Kunstunterricht verwendet wurde. "Er ist dann mit dem Cutter-Messer auf den anderen Schüler zugestürmt und schrie laut, er werde ihn umbringen."
Der Lehrer stellte sich zwischen die Schüler, versuchte zu schlichten. "Daraufhin hat er mich mit dem Cutter-Messer attackiert, weil er so sehr in Rage war, dass er auf irgendjemanden einstechen musste". Der Lehrer wurde leicht verletzt, schilderte er der DW. "Das war auch kein ganz kleiner Schüler mehr, wir sind ja an einer weiterführenden Schule. Das war eine krasse Situation."
Dieser Fall sei allerdings keiner, den "wir täglich an Schulen erleben" kommentiert Lehrer-Gewerkschafter Brand. Die Statistiken seien jedoch nur die "Spitze des Eisbergs". "Man kann davon ausgehen, dass die Dunkelziffer sehr viel höher liegt." Immer noch sei Gewalt gegen Lehrpersonal ein Tabuthema. Es gebe sehr viele Menschen, "die trauen sich nicht, über Gewaltvorfälle an den Schulen zu sprechen", sagt Brand.
Schulpsychologe Klaus Seifried sieht die Lage an deutschen Schulen nicht ganz so dramatisch, er glaubt, "dass die Gewaltvorfälle nicht wirklich zunehmen". Seifried war 26 Jahre lang Schulpsychologe und ist stellvertretender Vorsitzender für Schulpsychologie im Berufsverband Deutscher Psychologen. "Es ist so, dass heute genauer hingeguckt und mehr darüber gesprochen wird", sagt er der DW. Seifried sieht noch einen anderen Grund für eine gewisse Eskalation an den Schulen: den Generationswechsel beim Lehrpersonal. "Viele der Lehrkräfte sind noch unerfahren und wissen nicht, wie man mit Konflikten umgeht. Und die Belastungsfaktoren für Lehrerinnen und Lehrer sind größer geworden durch den Mangel an Lehrkräften und Vertretungsstunden."
Großer Mangel an Lehrern
Fakt ist: In Deutschland fehlen – nach Angaben der Kultusministerkonferenz – bis 2025 schätzungsweise 25.000 Lehrkräfte. Der Lehrerverband VBE beziffert den Mangel sogar auf 50.000. Einer Umfrage des Lehrerverbandes VBE zufolge, beklagen 69 Prozent aller Schulleitungen einen eklatanten Lehrkräftemangel. Das sei der "Dreh- und Angelpunkt", erklärt VBE-Vorstand Brand. "Das Lehrpersonal reicht hinten und vorne nicht." Eine intensivere Betreuung von Schülerinnen und Schülern durch mehr Lehrpersonal würde die Aggression in den Klassenräumen reduzieren. Nur, mehr Lehrpersonal, so Brand, werde es absehbar nicht geben.
Brandbeschleuniger Corona
In den drei Jahren der Corona-Pandemie von 2020 bis 2023 hat sich die Situation an den Schulen noch einmal verschärft, ergab eine Umfrage des Lehrerverbandes VBE. In dieser Zeit waren Schüler und Eltern unter einem besonderen psychischen Druck. Das Sozialleben war nur sehr eingeschränkt möglich. Frust wurde oft im Schulkontext ausgelebt, sagen Experten. Schulpsychologe Klaus Seifried stellt fest: "In der Corona-Zeit gab es natürlich Schüler, die in Regellosigkeit lebten, nur vor dem Fernseher oder Computer hingen." Und Gewerkschafter Brand resümiert: "Im Verlauf der Corona-Pandemie kippte die anfängliche Solidarität um in zunehmende Aggressivität."
Aber nicht nur Schüler, sondern vor allem Eltern trugen während der Pandemie zu mehr Gewalt und Entgrenzung an Schulen bei. Im Bundesland Thüringen gingen einer VBE-Studie zufolge 56 Prozent der Fälle direkter seelischer Gewalt und in 70 Prozent der Fälle von Internetgewalt in den Coronajahren von Eltern aus. Ziel waren Lehrer und Lehrerinnen, die auf die Einhaltung der Corona-Regeln pochten. Lehrkräfte schildern, dass ihnen zum Beispiel daraufhin vorgeworfen wurde, die Schule mit Nazimethoden zu leiten. Eine Lehrkraft berichtete von Tritten vor den Oberschenkel und in den Bauch.
Schule als Spiegel einer zunehmend verrohten Gesellschaft
Dass sich die Fälle von Gewalt gegen Lehrpersonal häufen, läge auch an den Veränderungen in der Gesellschaft. Und da könne man feststellen, so VBE-Chef Brand, "dass Gewaltbereitschaft und Verrohung zunimmt. Der Umgang untereinander verliert deutlich an Respekt, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit." Dennoch, Resignation sei keine Option, sagt Schulpsychologe Seifried. Er hat ein Rezept gegen Gewalt in Klassenzimmern: "Lehrkräfte sollten zu Schülerinnen und Schülern eine positive, konstruktive Beziehung aufnehmen, ihnen Grenzen setzen und Halt geben; und das mit einer positiven Autorität."