1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Gewalt gegen Frauen: EU-Umfrage zeigt alarmierende Zahlen

25. November 2024

Gewalt zu Hause, in der Öffentlichkeit oder am Arbeitsplatz ist für Frauen keine Seltenheit. Die Zahlen haben sich trotz neuer Gesetze nicht wesentlich verändert.

Großformatiges Bild an einer Häuserwand in Gelsenkirchen, Deutschland. Es zeigt eine Frau mit geschlossenen Augen und einem Schild über dem Mund
Fast jeden Tag wird in Deutschland eine Frau getötet - dieses Häusergemälde in Gelsenkirchen erinnert daran Bild: Martin Meissner/picture alliance/AP

"Es gibt ungefähr 229 Millionen Frauen in Europa (in der EU - d. Red). Ein Drittel von ihnen wurde geohrfeigt, geschlagen, getreten, vergewaltigt oder mit ähnlicher Gewalt bedroht", sagte Sipra Rautio, Direktorin der Europäischen Grundrechteagentur, am Montag in Brüssel. Das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen sei "wirklich überwältigend".

Am Montag stellte die Europäische Grundrechteagentur ihre gemeinsam mit dem EU-Statistikamt (Eurostat) und dem Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen erstellte Erhebung zu geschlechtsspezifischer Gewalt vor. Es ist die erste Folgestudie einer Erhebung von 2014. Für die neue Ausgabe wurden über einen Zeitraum von vier Jahren Daten von mehr als 114.000 Frauen aus allen EU-Mitgliedstaaten gesammelt und ausgewertet. Die traurige Realität sei, dass sich seitdem nichts wirklich verändert habe, sagte Rautio bei der Präsentation.

Nur eine von sieben Frauen meldet Gewalt bei Polizei

Laut der EU-Umfrage hat eine von drei Frauen in der EU in ihrem Leben physische, psychische oder sexuelle Gewalt erfahren - entweder durch einen Partner oder Dritte. Besonders hoch liegen die Zahlen in Finnland (57,1 Prozent ), Schweden (52,5 Prozent) und Ungarn (49,1 Prozent). Auch in Dänemark haben 47,5 Prozent der Frauen angegeben, diese Art der Gewalt schon einmal erfahren zu haben. Die niedrigsten Zahlen weisen Bulgarien (11,9 Prozent) und Polen (16,7 Prozent) auf, gefolgt von Tschechien und Portugal mit jeweils 19,7 Prozent. Deutschland lag mit 25,6 Prozent etwas unter dem EU-Durchschnitt von 30,7 Prozent.

Besonders häufig erleben Frauen demnach geschlechtsspezifische Gewalt im häuslichen Umfeld. So berichtet fast jede fünfte Frau (19,3 Prozent), bereits einmal physische oder sexuelle Gewalt durch ihren Partner oder andere im selben Haushalt lebende Personen erfahren zu haben.

Allerdings meldet nur etwas weniger als eine von sieben Frauen die gewaltsame Übergriffe der Polizei. Die Leiterin des Instituts für Gleichstellungsfragen Carlien Scheele meint, dass diese Daten viel über den gesellschaftlichen Umgang mit Gewalt gegen Frauen aussagen. Scham und Beschuldigungen seien an der Tagesordnung: "Warum bist du geblieben, warum hast du es nicht vorher zur Anzeige gebracht, was hast du gemacht, um ihn dazu zu bringen?" Das sei furchtbar und es brauche greifbare Schritte, so Scheele.

Wie erklären sich die hohen Zahlen in Nordeuropa?

Fast jede Dritte befragte Frau berichtete, schon einmal an ihrem Arbeitsplatz belästigt worden zu sein. Abgefragt wurden unter anderem unangemessene sexuelle Witze, das Zeigen unangemessener Bilder und Videos sexuellen Inhaltes oder unangemessener Körperkontakt. In der jüngsten Altersgruppe der 18- bis 29-jährigen haben 41,6 Prozent von derartigen Erfahrungen berichtet.

Auch hier liegen die Zahlen für die nordeuropäischen Länder Schweden (55,4 Prozent) und Finnland (53,7 Prozent) am höchsten, gefolgt von der Slowakei (53 Prozent). Am niedrigsten sind die Werte für Lettland (11 Prozent), Bulgarien (12,2 Prozent) und Portugal (12,3 Prozent). Deutschland liegt mit knapp über 32 Prozent leicht über dem EU-Durchschnitt (30,8).

Gewalt gegen Frauen: Was sind die Ursachen?

42:34

This browser does not support the video element.

Joanna Goodey, Abteilungsleiterin bei der Grundrechteagentur, sagte im Rahmen der Vorstellung, dass das "nordische Paradox" ein möglicher Erklärungsansatz für die hohen Zahlen in Nordeuropa sei. Ein Schlüsselfaktor dabei sei, "dass Frauen sich in der Lage fühlen, über Gewalterfahrungen zu sprechen, und es nicht als etwas Beschämendes angesehen wird, an dem die Frauen selbst Schuld seien." Das sei nicht in allen Ländern der Fall, führt Goodey aus.

Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in der EU

Auch wenn sich an den Zahlen in den letzten zehn Jahren nichts verändert habe, sagt Irene Rosales von der European Women's Lobby im Gespräch mit der DW, sei die Situation mittlerweile eine andere. So sei die Istanbul-Konvention mittlerweile in den meisten EU-Staaten ratifiziert.

Das Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt ist zum heutigen Tag in 22 der 27 EU-Staaten anwendbar. Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Litauen und die Slowakei haben sie bislang nicht ratifiziert. Die EU ist der Konvention 2023 beigetreten. Laut Istanbul-Konvention liegt "geschlechtsspezifische Gewalt" dann vor, wenn sie sich gegen eine Frau aufgrund ihres Geschlechts richtet oder Frauen unverhältnismäßig stark betroffen sind.

Die Französin Gisele Pelicot, Opfer von systematischer Massenvergewaltigung initiiert von ihrem Ehemann, ist zur Ikone des Kampfes gegen Opferscham gewordenBild: Jerome Rey/PHOTOPQR/La Provence/MAXPPP/IMAGO

Außerdem hat die EU in diesem Jahr eine neue Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt beschlossen. Diese müssen die Mitgliedstaaten bis zum 14. Juni 2027 umsetzen. Rosales hofft, dass dies eine neue Ebene an Verantwortlichkeit für die Mitgliedstaaten schafft. In diesem Februar ist der Vorstoß, einen EU-weit einheitlichen Vergewaltigungsbegriff zu schaffen, an den Mitgliedstaaten gescheitert.

Zum Internationalen Tag zur Beendigung der Gewalt gegen Frauen veröffentlichten auch die Vereinten Nationen neue Zahlen. Laut UN-Schätzungen wurden im vorigen Jahr weltweit 51.100 Mädchen und Frauen von Verwandten oder männlichen Partnern getötet. Das gesamte Ausmaß an Femiziden sei jedoch noch größer, hieß es in einer Studie des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) und der UN-Frauenorganisation UN Women.

Auf die Umsetzung kommt es an

Gerade mit Blick auf die Anwendung der Istanbul-Konvention wünscht sich die Frauenrechtsexpertin Rosales eine geschlechtssensible Sichtweise. Damit meint sie, dass noch herrschende gesellschaftliche Ungleichheiten zwischen Mann und Frau bedacht werden müssen. Denn ohne diesen Ansatz könnte man nicht erkennen, was eine Frau durchmacht, sagt Rosales. So würden etwa bestimmte Formen der Kontrollausübung nicht erkannt oder Faktoren wie etwa eine mögliche wirtschaftliche Abhängigkeit nicht in die Bewertung mit einbezogen. Auch schütze der Ansatz davor, das Opfer für die Tat verantwortlich zu machen.

Auch Carlien Scheele spricht sich dafür aus, dass das Opfer im Zentrum von Maßnahmen stehen müsse, um sicherzustellen, dass mehr Frauen die Vorfälle melden. Die Frauenrechtsexpertin Irene Rosales erwartet, dass die Zahlen auch in Zukunft hoch bleiben. Allerdings nicht, weil sie denkt, dass es tatsächlich mehr Gewalt gegen Frauen geben werde, sondern, dass sich das Bewusstsein und Verständnis dafür ändert - wie man das bereits in Nordeuropa beobachte.

Den nächsten Abschnitt Top-Thema überspringen

Top-Thema

Den nächsten Abschnitt Weitere Themen überspringen