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Gesellschaft

"Schweigen schützt nur den Täter"

Maximiliane Koschyk
25. November 2016

Sie wirke nicht traurig genug, wurde Katja Schneidt einmal von einem TV-Kamerateam gesagt. In Deutschland über häusliche Gewalt offen zu sprechen, ist für sie ein Kampf gegen Peiniger - und gegen Klischees.

Deutschland Katja Schneidt Autorin
Bild: DW/M. Koschyk

53 Kilometer trennen Katja Schneidt von einem Leben, das sie am Ende fast getötet hätte. Die 46-Jährige lebt in einer Kleinstadt in Hessen. "Ich kann mich noch ganz genau erinnern", sagt sie über die erste Gewaltattacke ihres damaligen Freundes. "Ich saß im Krankenhaus im Wartebereich und dachte 'Mein Gott, was für ein Klischee bedienst du hier gerade?'", sagt Schneidt: "Mein türkischer Freund hat mich krankenhausreif geschlagen."

Es ist ein Klischee, das in vielen Köpfen sofort einen Schalter umlegt. Das Schuldfragen aufwirft, Ressentiments weckt, nach Begründungen dafür sucht, dass eine Frau geschlagen wurde. "Ich bekomme heute noch Gänsehaut", sagt Schneidt, als sie über die damaligen Reaktionen aus ihrem Umfeld berichtet. Sie sei selbst schuld, musste sie sich anhören, ihr Partner sei ja ein Ausländer. Dabei gebe es Gewalt gegen Frauen in allen Bevölkerungsgruppen, betont Schneidt, "definitiv".

Der obligatorische Treppensturz

Das Paar war gerade erst zusammengezogen, als sie das erste Mal ihre Mutter im Nachbarort besuchte. Der Besuch dauerte länger, auf der Rückfahrt stand sie im Stau. Ihr Partner war wütend, weil sie zu spät nach Hause kam, sie verstand seine Wut nicht: "Ich musste lachen, für mich war das so lächerlich." Da attackierte er sie "mit einer Brutalität, die ich überhaupt nicht für möglich gehalten hätte". Als er sich abreagiert hatte, fuhr Katja Schneidt allein mit dem Taxi in die Notaufnahme.

Sie schämte sich, als der Arzt nach der Ursache ihrer Verletzungen fragte: "Ich habe das mit dem obligatorischen Treppensturz beantwortet", erinnert sich Schneidt. Der Mediziner war skeptisch, sagte ihr, "das wäre in seiner dreißigjährigen Dienstzeit dann doch der spektakulärste Sturz". Sie blieb bei der Lüge, verließ die Notaufnahme mit gebrochenen Rippen und frisch genähten Platzwunden auf wackeligen Beinen. "Ich konnte kaum durchatmen", erinnert sich Schneidt an diesen Moment: "Das ist schon 26 Jahre her."

2015: Die erste Kriminalstatistik

Jede vierte Frau in Deutschland wird Opfer häuslicher Gewalt. Das Bundeskriminalamt (BKA) hat erstmals polizeilich registrierte Fälle häuslicher Gewalt ausgewertet. Die Bilanz: Es gab 2015 mehr als 104.000 Fälle, in denen eine Frau in einer Partnerschaft Gewalt erfahren hat. Das ist ein Drittel aller weiblichen Opfer bei Gewalttaten.

"Gewalt gegen Frauen hat viele Gesichter", sagte BKA-Präsident Holger Münch. Das BKA nennt in der ersten Statistik rund 16.200 Bedrohungen, knapp 66.000 einfache und mehr als 11.400 gefährliche Körperverletzungen. 331 Frauen wurden von ihrem Partner getötet. Dazu komme ein "nicht unerhebliches Dunkelfeld", schätzt BKA-Chef Münch: "Opfer häuslicher Gewalt empfinden ihre Situation oft als ausweglos, sie machen sich nicht bemerkbar."

Der schlechte Zeitpunkt

Katja Schneidts Partner folgte ihr zum Krankenhaus. Er wartete draußen auf einer Bank und weinte. Er entschuldigte sich, aber sie wollte sich trennen. Er schlief auf dem Sofa, sie suchte nach Wohnungen, aber die waren kurz nach der deutschen Wiedervereinigung knapp: "Es gab keinen bezahlbaren Wohnraum."

Frauen müssen kalkulieren: Mit der Flucht vor einem Gewalttäter im eigenen Haushalt geben sie meist auch ihre finanzielle und soziale Versorgungsstruktur auf. Wenn sie keinen Platz in einem Frauenhaus bekommen, müssen sie meist eine eigene Wohnung anmieten. Die zahlt in der Regel das Sozialamt, doch günstige Sozialwohnungen sind ebenso knapp wie Plätze in Frauenhäusern.

Nach ihrer Flucht sind die Frauen mittellos, sie können - oder sollten - kein Geld vom gemeinsamen Haushaltskonto abheben. Die Gefahr, von ihrem rachsüchtigen Partner über Ortsangaben auf Kontoauszügen gefunden zu werden, ist zu groß. Aus Angst vor Rache argumentieren sie so gegen die Flucht, berichtet Schneidt: "Das ist jetzt ein ganz schlechter Zeitpunkt, ich bleib jetzt besser bei meinem Mann."

So ging es auch Katja Schneidt selbst. Wochen vergingen, irgendwann kehrte Normalität ein. "Am Anfang war es ganz schlimm", sagt sie, aber mit der Zeit "kam es mir so vor, als ob es gar nicht mich betroffen hätte, sondern andere Leute". Doch ihr Freund schlug kurz darauf wieder zu. "Er hat zweimal versucht, mich umzubringen", sagt Schneidt: "Beim dritten Mal hat es fast funktioniert."

Eine aufmerksame Kollegin rettete ihr das Leben

"Ich verdanke mein Leben einer, die hingeschaut hat", erzählt Schneidt von ihrer Flucht. Eine Arbeitskollegin aus der Bäckerei im Ort war misstrauisch geworden. Dort durfte Katja Schneidt nach vier Jahren Gewalt und Unterdrückung einige Stunden pro Woche arbeiten. Ihr damaliger Chef wollte, dass sie für Abrechnungen länger bleibt. "Da wusste ich schon: Das ist keine gute Idee." Ihr Partner duldete die Verspätung nicht, er kam, um sie nach Hause zu holen. Mit einem Pflasterstein schlug er sie in der Einfahrt des gemeinsamen Wohnhauses bewusstlos. In der Wohnung wurde sie wach - von weiteren Schlägen.

Sie erschien nicht zur Arbeit. Die Kollegin fuhr zu ihr nach Hause und erkundigte sich nach ihr. "Ich lag im Bett und konnte mich nicht bemerkbar machen", erinnert sie sich: "Ich war mehr tot als lebendig." Ihr Freund erklärte, sie sei zu ihrer kranken Mutter in den Nachbarort gefahren. Ihre Kollegin bedankte sich höflich, sie ging und alarmierte die Polizei.

"Sie hat gesehen, dass mein Auto noch im Hof steht", erklärt Schneidt. Zu ihrer Lebensretterin hat sie heute aus Sicherheitsgründen keinen Kontakt mehr. Schneidt floh damals zu ihrer Mutter, von dort nach München und zog mehrere Jahre weiter durch Deutschland. Sie bekam Polizeischutz.

Scham schafft Schweigen

Schneidt ist eine selbstbewusste und energische Frau, die ganz selbstverständlich über ihre gewaltsame Vergangenheit redet, während sie in einer Bäckerei einen Milchkaffee trinkt. "Ich war eines der ersten Mädchen hier in Hessen, das zur Berufskraftfahrerin ausgebildet wurde", erzählt sie. Sie weiß selbst, was viele denken: "Wie ein Opfer wirke ich nicht." Integration, Frauen und Gesellschaft: Diese Themen bestimmen heute ihr Leben. 

Frauenministerin Schwesig: "Gewalt ist keine Privatsache"Bild: picture-alliance/dpa/W. Kumm

Über ihre Gewalterfahrungen hat Schneidt mehrere Bücher geschrieben. Sie weiß, dass diese Offenheit auch heute kein Selbstverständnis in der deutschen Gesellschaft ist. Es sind nicht nur Schläge und Drohungen, sondern auch Scham, Selbstzweifel und Traumata, die Opfer häuslicher Gewalt zum Schweigen bringen.

Dagegen will sich auch die Politik engagieren. "Dieses Tabu muss weiter gebrochen werden", sagt Bundesfrauenministerin Manuela Schwesig. Häusliche Gewalt sei keine Privatsache: "Es ist eine Straftat - und sie muss entsprechend verfolgt werden."

So gibt es seit drei Jahren erstmals ein bundesweites Notruftelefon, koordiniert vom Bundesverband Frauen gegen Gewalt e.V. (BFF), der auch die Beratungsstellen in Deutschland betreut. Der Bedarf an Beratungen sei gestiegen, sagt BFF-Referentin Katharina Göpner.

Gewalt öffentlich machen

Gewalt gegen Frauen werde mehr in der Gesellschaft wahrgenommen, aber die Opferrolle sei immer noch stark mit einem Schamgefühl besetzt. "Wir sehen ein großes Problem darin, dass es bestimmte Vorstellungen davon gibt, wie vermeintliche Opfer aussehen", erläutert Göpner: "Das hat auch Einfluss darauf, ob Frauen sich trauen, über Gewalt zu sprechen."

Das Internet macht es hilfesuchenden Frauen zwar leichter, Notrufe und Frauenhäuser zu kontaktieren. Andererseits müssen sie vorsichtiger sein, um zum Beispiel von ihren Peinigern nicht über ihr Handy geortet zu werden. Webseiten der Beratungsstellen lassen sich teilweise anonym aufrufen.

Auch Katja Schneidt hilft Frauen, die Ähnliches erlebt haben wie sie selbst. Über soziale Netzwerke nehmen sie heimlich Kontakt zu ihr auf. Sie hat schon für viele betroffene Frauen die Flucht organisiert und rät ihnen, die Gewalt öffentlich zu machen: "Das Schweigen schützt nur den Täter."Internetseite des Hilfetelefons 'Gewalt gegen Frauen'

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