Pulverfass Banlieues
24. Oktober 2006"Wir sitzen immer noch auf einem Pulverfass", sagt Manuel Valls, Bürgermeister im südlich von Paris gelegenen Evry. Im benachbarten Grigny hatten Jugendliche am Sonntag (22.10.) einen Bus angezündet und dann die anrückende Polizei und Feuerwehr angegriffen.
Am Freitag (27.10.) jährt sich der Beginn der dreiwöchigen Vorstadtkrawalle von Pariser Jugendlichen. Bei den schwersten Unruhen in Frankreich seit fast 40 Jahren waren nach dem Tod zweier Jugendlicher auf der Flucht vor der Polizei mehr als 9000 Autos in Flammen aufgegangen. Ein Jahr später sei bei einem Teil der Jugendlichen ein "fiebriger Zustand" wahrnehmbar, heißt es in einem internen Bericht des Polizeigeheimdienstes, aus dem die Tageszeitung "Le Figaro" am Montag zitierte.
Alles beim Alten
Die Bedingungen, die zur Gewalteskalation vor einem Jahr geführt haben, seien immer noch vorhanden, betont Henri Rey, Forschungsdirektor am renommierten Pariser Cevipof (Centre de recherches politiques de Sciences Po): "Nichts hat sich seither geändert." Tatsächlich liegt die Arbeitslosenquote unter den Banlieue-Jugendlichen, die zumeist aus dem Maghreb und der Sub-Sahara stammen, immer noch bei rund 40 Prozent.
Die konservative Regierung und allen voran Innenminister Nicolas Sarkozy halten dagegen, sie hätten zahlreiche Maßnahmen ergriffen: So überwies die Regierung im vergangenen Jahr rund 80 Millionen Euro an einen Fonds, der lokale Selbsthilfe-Organisationen in den Vorstädten unterstützen soll. Doch Kritiker werfen der Regierung vor, diese Hilfen seien nur ein Tropfen auf dem heißen Stein und zudem irgendwo im Gewirr der rund 14.000 betroffenen Vereine versickert.
Schräge Wahrnehmung
Barbara Riedmüller, Politologin und Frankreich-Expertin an der Freien Universität Berlin, betont: "Es ist extrem auffällig, dass die Franzosen wesentlich weniger in den Bereich innere Sicherheit investieren als die Deutschen. Hier gibt es viel mehr Polizei auf den Straßen und auch mehr Überwachungssysteme zum Beispiel in den U-Bahnen."
Trotzdem ist die Wahrnehmung vieler Franzosen offenbar eine ganz andere: "Sarkozy hat sich ein Image erworben, dass er aktiv etwas gegen dieses Problem unternimmt", sagt der französische Politologe Rey, der am Institut d'Etudes Politiques de Paris lehrt. "In dieser Hinsicht waren seine Maßnahmen ein Erfolg." Ein Erfolg, von dem Sarkozy am 22. April 2007 zu profitieren hofft: Dann steht die erste Runde der Wahl eines neuen Staatsoberhauptes an, bei der Sarkozy Staatspräsident Jacques Chirac beerben möchte.
Seinen Weg in den Elysée-Palast will Sarkozy offenbar mit massiven Strafandrohungen ebnen: Vergangene Woche warnte der Chef der rechten Partei Union pour un mouvement populaire (UMP), der die randalierenden Jugendlichen einst als "Gesindel" bezeichnet hatte, er werde Angriffe auf Polizisten und Feuerwehrmänner künftig härter bestrafen.
Sozialisten kontern mit "Politik der Strenge"
Auch die Parti Socialiste, die Ende November ihren Präsidentschaftskandidaten bestimmen wird, hat die innere Sicherheit und die Jugendkriminalität bereits als Wahlkampfthemen für sich entdeckt: "Wir werden eine Politik der Strenge gegen Kriminalität und ihre Ursachen betreiben", kündigte Ségolène Royal an, die in Meinungsumfragen deutlich vor ihren parteiinternen Konkurrenten Laurent Fabius und Dominique Strauss-Kahn führt.
Dabei habe die PS bisher eher für eine Politik der Prävention gestanden, sagt Parteien-Experte Rey, für eine "Polizei der Nähe". Demnach solle eine vertrauensvollere Beziehung zwischen Polizisten und Einwohnern geschaffen werden, um Gewaltausbrüche zu vermeiden.
Die wäre eigentlich auch dringend nötig, denn die Gewalt eskaliert auf beiden Seiten: Bereits in den vergangenen Wochen wurden Polizisten immer wieder in Hinterhalte gelockt und mit Steinen beworfen oder zusammengeschlagen. Die Bewohner der Trabantenstädte werfen ihrerseits der Polizei vor, sie mit demütigenden Ausweiskontrollen, Beschimpfungen und Schlägen zu schikanieren.
Rechtsextremer Front National als Profiteur?
Richteten die beiden großen Parteien UMP und PS jetzt aber ihren Wahlkampf auf das Thema innere Sicherheit aus, könnte sich der rechtsextreme Front National (FN) mit seinem Vorsitzenden Jean-Marie Le Pen als lachender Dritter erweisen: Bei der Präsidentschaftswahl 2002 nannten 74 Prozent der FN-Wähler die mangelnde innere Sicherheit als Motiv für ihre Entscheidung. Damals gewann Le Pen mehr Stimmen als PS-Kanididat Lionel Jospin und schaffte es so in die Stichwahl gegen Jacques Chirac.
Aus Angst vor einer Wiederholung des "Albtraums von 2002" rufen deshalb Stars und Musiker, die aus den Banlieues stammen, die Jugendlichen zum Wählen auf. Der Rapper Joe Starr - selbst wegen Körperverletzung mehrfach vorbestraft - fordert von ihnen, "endlich damit aufzuhören, die Opferkarte zu spielen".