1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Gewalt und Angst - Berlins Juden in Sorge

22. Mai 2024

Jüdische Experten in Berlin schlagen erneut Alarm: Der Antisemitismus nimmt rasant zu, die Angst der jüdischen Bevölkerung wächst. Und sie warnen vor noch schlimmeren Entwicklungen.

Anschlag auf Berliner Synagoge
Ständig von der Polizei bewacht: Eine jüdische Gemeinde in BerlinBild: Soeren Stache/dpa/picture alliance

Anna Chernyak Segal berichtet sachlich und doch voller Betroffenheit. Sie erzählt vom versuchten Brandanschlag mit zwei Molotowcocktails auf ihre Synagoge Mitte Oktober vorigen Jahres und vom Angriff auf ein junges Gemeindemitglied vor wenigen Wochen am Berliner Gesundbrunnen. Der junge Mann sei "körperlich angegriffen und antisemitisch beleidigt" worden, er erlitt "Knochenbrüche und massive emotionale und mentale Schäden".

Das sind zwei der antisemitischen Attacken auf die orthodoxe jüdische Gemeinde "Kahal Adass Jisroel" an der Berliner Brunnenstraße, die es bundesweit in die Nachrichten schafften.

Beschimpfungen in der U-Bahn

Doch Segal, Geschäftsführerin der Gemeinde, schildert viele weitere Zwischenfälle. Aus ihren Berichten spricht die bange Sorge um die Sicherheit. Da sind verbale Angriffe auf offener Straße oder in öffentlichen Verkehrsmitteln wie die Beschimpfung als "Kindermörder", Anfeindungen im Internet, antisemitische Markierungen auf Wohnhäusern und an Haustüren, abgerissene Mesusot, jene kleine Kapseln, die religiöse Juden an den Türrahmen ihrer Wohnungstüren befestigen. "Wir erleben eine stark erhöhte Bedrohungslage für jüdisches Leben", sagt sie. "Das hätten wir uns nie vorstellen können".

Segal gehört zu den Betroffenen, die bei der Vorstellung des Jahresberichts 2023 der "Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus" Berlin (RIAS-Berlin) zu Wort kamen. Das, was die Statistik in nüchternen Zahlen und doch so erschreckend auflistet, füllt sie mit Leben. Für 2023 verzeichnete RIAS-Berlin 1270 antisemitische Vorfälle in der deutschen Hauptstadt. Das ist die höchste Zahl seit der Gründung der Einrichtung 2015 und bedeutet einen Anstieg gegenüber dem Vorjahr 2022 um knapp 50 Prozent.

"Der 7. Oktober 2023 stellt eine Zäsur dar", sagt die Projektleiterin von RIAS-Berlin, Julia Kopp. Antisemitismus sei seitdem "deutlich präsenter" als zuvor in Berlin. Vom 7. Oktober, dem ersten Tag des mörderischen Angriffs der Terror-Organisation Hamas, bis zum Jahresende waren es demnach durchschnittlich rund zehn antisemitische Vorfälle pro Tag. Erfasst wurden strafbare und nicht strafbare Vorfälle.

Kopp erläutert, wie sich das jüdische Leben in der Stadt längst verändert hat. Jüdinnen und Juden achteten darauf, nicht an religiösen Symbolen erkannt zu werden. Einzelne würden sogar fliehen und aus einer besonders bedrohten Lage in andere Stadtteile ziehen.

"Traumatisiert und verletzt"

Kopp nennt das jüdische Restaurant "DoDa's Deli", das lange in Berlin-Friedrichshain seinen Sitz und seine Kundschaft hatte. Bald nach Beginn des Hamas-Terrors sei das Ladenschild zerstört worden, dann gab es immer neue Bedrohungen, auch Warnungen, das Deli zu besuchen. "Die Betreiber sehen sich gezwungen, den Bezirk zu verlassen", erläutert sie. Demnächst will das "DoDa's Deli" in Wilmersdorf im Westen Berlins einen Neustart versuchen. Für den Antisemitismusbeauftragten der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Sigmount Königsberg, zeigt der Bericht, "wie große Teile der jüdischen Community in Berlin traumatisiert und verletzt sind".

Eine pro-palästinensische Demonstration Mitte Mai in BerlinBild: RALF HIRSCHBERGER/AFP

Die Lage in Berlin, der Stadt mit der größten muslimischen, auch der größten palästinensischen Community in Deutschland, ist keine Ausnahme. Das verdeutlicht der am gleichen Tag vorgelegte Jahresbericht 2023 der RIAS-Stelle im Bundesland Hessen. Auch dort explodierten mit dem 7. Oktober die Zahlen: mehr als 60 Prozent der 528 dokumentierten Vorfälle ereigneten sich in den letzten drei Monaten des Jahres.

Und am Vortag berichteten Expertinnen und Experten vom "Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt" (VBRG) vor Journalisten in Berlin. Da verwies der Historiker Jens-Christian Wagner, Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora in Thüringen, auf Zwischenfälle bei Führungen durch die früheren Konzentrationslager. Demnach gab es antisemitische oder israelfeindliche Bemerkungen, sogar Einschüchterungen von Gedenkstätten-Mitarbeitenden. Auf die Frage, ob die Täter in solchen Fällen auch aus einem pro-palästinensischem, muslimischem Milieu kämen, sagte er, in aller Regel seien es schon "autochthone Deutsche" - Deutsche ohne jeden Migrationshintergrund. Sorgen um ihre Sicherheit und Unversehrtheit haben Jüdinnen und Juden und israelische Staatsbürger wohl in allen Teilen Deutschlands. Besonders in Berlin.

Zweifel und Frustration

Immerhin: Meist fühlen sie sich von der Polizei beschützt und gut behütet. Auch von den RIAS-Experten kommt keine Kritik zum Verhalten der Sicherheitskräfte bei anti-israelischen Demonstrationen. Und doch klingen Zweifel und Frust durch. Segal schildert, wie Steine die Fensterscheiben einer jüdischen Familie aus ihrer Gemeinde bersten ließen. Die Steine seien von den Kindern einer muslimischen Familie in der Nachbarschaft geworfen worden.

Der Leiter des RIAS-Bundesverbandes, Benjamin Steinitz, Anna Chernyak Segal, Julia Kopp, Sigmount Königsberg (von links nach rechts)Bild: RIAS Berlin

Von Polizeibeamten sei dann der Ratschlag gekommen: "Ziehen Sie aus diesem Bereich weg. Wir können nichts machen." Unter den Gemeinde-Mitgliedern, so die Geschäftsführerin, hätten solche Nachrichten eine verheerende Wirkung. Die Verantwortlichen würden "bitten und betteln", damit die Betroffenen sich bereit erklärten, Vorgänge zu melden, oder zur Anzeige zu bringen. Aber nicht alle tun es. 

Bislang sind es viele einzelne Vorfälle, auch bei "zufälligen Begegnungen im Alltag", wie Julia Kopp sagt. Weil sie zufällig passierten, sei es für die Betroffenen "so schwer, sich davor zu schützen". Doch angesichts mancher Militanz von Parolen und Akteuren fürchten Experten auch eine Steigerung der Übergriffe, eine Eskalation der Gewalt. Der Ansprechpartner des Landes Berlin zu Antisemitismus, Samuel Salzborn, verweist auf die Vehemenz bei einzelnen Protestveranstaltungen und fürchtet weitere Aggression. Er spricht gar von einer "Entwicklung, die potenziell prä-terroristische Strukturen annimmt". 

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen
Den nächsten Abschnitt Top-Thema überspringen

Top-Thema

Den nächsten Abschnitt Weitere Themen überspringen