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Gewinn statt Bedrohung

Oliver Samson10. März 2004

Die Völkerwanderung nach der EU-Erweiterung bleibt aus. Neue Migrationsstudien widersprechen bisherigen Horror-Szenarien. Den Beitrittsländern droht allerdings eine dramatische Abwanderung der jungen Intelligenz.

Der große Ansturm auf die EU wird ausbleibenBild: dpa

Am 1. Mai 2004 ist es soweit: Zehn neue Länder werden in die Europäische Union (EU) aufgenommen. Mit der Freizügigkeit des Arbeitsmarktes innerhalb der EU wird es allerdings noch einige Jahre dauern: Knapp acht Wochen vor der EU-Erweiterung haben die meisten Mitgliedstaaten der Union angekündigt, ihren Arbeitsmarkt gegen Zuwanderer aus den neuen Mitgliedsländern abzuschotten - zumindest für eine Übergangszeit.

Ein Grund dafür ist die Furcht vor einem Zustrom von billigen Arbeitskräften aus den ost- und mitteleuropäischen Beitrittsstaaten. Neben Deutschland war Österreich die treibende Kraft für die Einführung der Übergangsregelung und hat sie in vollem Umfang beschlossen: Zuwanderer aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, aus Slowenien, Tschechien und Ungarn brauchen hier eine Arbeitsbewilligung. Die freie Wanderung osteuropäischer Arbeitskräfte kommt damit erst 2009 oder aber 2011 auf Deutschland zu.

Das Gespenst an der Wand

Was dann genau auf Deutschland zukommt, war lange umstritten. Studien ergaben zunächst, dass zwischen 10 und 30 Prozent der osteuropäischen Bevölkerung bereit wären, nach Westeuropa auszuwandern - das Gespenst einer neuen Völkerwanderung war an die Wand gemalt.

"In Deutschland gibt es ohnehin eine große Furcht vor Einwanderung - und Migration ist ein Faktor der EU-Erweiterung, der als bedrohlich angesehen wird", sagt Barbara Dietz vom Osteuropa-Institut in München. Die Migrationswissenschaftlerin hat die verschiedenen Studien zur Ost-West-Migration im Vorfeld der EU-Erweiterung ausgewertet - und argumentiert gegen politisch instrumentalisierbare Horror-Szenarien. Man dürfe nicht übersehen, dass die Befragten schließlich nur Absichtserklärungen geäußert hätten und nur ein kleiner Teil schließlich tatsächlich die Koffer packen würde.

Verschiedene neuere Studien zur Schätzung des Ost-West-Wanderpotenzials kommen zu den Ergebnissen, dass zwischen drei und fünf Prozent der Bevölkerung der osteuropäischen Beitrittsstaaten innerhalb von 15 bis 20 Jahren nach Einführung der Freizügigkeit nach Westeuropa wandern werden. 60 Prozent davon werden sich in Deutschland niederlassen. Konkret heißt dies, dass zwischen 1,9 und 3,9 Millionen Menschen aus Osteuropa einwandern werden.

"Die unterschiedlichen Ergebnisse erklären sich aus den verschiedenen angewandten Methoden", sagt Migrationsforscherin Dietz. Die Schätzung von annähernd vier Millionen Migranten hält sie persönlich für deutlich zu hoch gegriffen. Ein Bedrohungsszenario wie die Überschwemmung des deutschen Arbeitsmarktes durch vergleichsweise billige Arbeitskräfte sei aber nach keiner dieser Studien zu erwarten. "Der Umfang der Migration (…) wird weit niedriger sein, als dies von manchen Politikern und in der öffentlichen Diskussion behauptet wurde", lautet einer der Kernsätze einer Ende Februar 2004 im Auftrag der EU-Kommision veröffentlichten Studie.

Jung, motiviert, gut ausgebildet

Darüber hinaus haben die Studien festgestellt, dass der typische Migrant aus Osteuropa jung, motiviert und gut ausgebildet sein wird - und Single ist. Den Anforderungen der deutschen Wirtschaft kommt dies sehr entgegen - die alten EU-Länder werden von der Zuwanderung profitieren. "Diesen Punkt muss man klar herausstellen, um die Migration für die Bevölkerung akzeptabel zu machen", sagt Dietz. "Zuwanderung war und ist ein ökonomischer Gewinn."

Bedrohlich könnte die Migration höchstens für die osteuropäischen Länder selbst werden, wenn die Jugend und die Intelligenz ihrer Heimat den Rücken kehren. Ein "Brain" respektive "Youth Drain" (übersetzt in etwa: Abfluss) könnte sich verheerend für diese Länder auswirken. Nach der EU-Studie werden die Beitrittsländer in den nächsten Jahren zwischen drei und fünf Prozent ihrer Akademiker und etwa zehn Prozent ihrer Studenten verlieren.

Polnischer "Brain Drain"?

Vor allem junge Polen denken angesichts einer Arbeitslosenquote von 20 Prozent und niedriger Löhne über eine Abwanderung nach. 34 Prozent aller Polen würden nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pentor gern im Ausland arbeiten. Unter den 25- bis 29-Jährigen sind es sogar 60 Prozent. 22 Prozent gaben an, ihr Land für immer verlassen zu wollen. "Ein repräsentatives Ergebnis", wie sich die mit der Studie beauftragte Pentor-Mitarbeiterin Agneska Morysinska sicher ist. Barbara Dietz hingegen bezweifelt den Wert dieser Umfrage.

Für aussagefähige Ergebnisse bräuchte man deutlich mehr abgefragte Parameter. Die Gefahr eines "Brains Drains" für die neuen EU-Länder hält sie gleichwohl für offensichtlich - "sowohl theoretisch als auch nach den empirischen Ergebnissen".

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