1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikAsien

Giftfälle: Iran verdächtigt Volksmudschahedin

18. März 2023

Für die Giftattacken gegen iranische Schulmädchen macht das Regime auch die sogenannten "Volksmudschahedin" verantwortlich. Die Anklage scheint wenig begründet. Doch die Exilgruppe ist umstritten.

Porträts von den Führungspersonen der Volksmudschahedin, Maryam Radjavi und ihr verschwundener Ehemann und Vorgänger Massoud Radjavi, bei einer gegen Teheran gerichteten Demonstration nahe Paris 2010
Porträts von den Führungspersonen der Volksmudschahedin, Maryam Rajavi und ihr aus der Öffentlichkeit verschwundener Ehemann und Vorgänger Massoud Rajavi, bei einer gegen Teheran gerichteten Demonstration nahe Paris 2010 Bild: Getty Images

Die Führung in Teheran gibt sich entschlossen: Mehr als 100 Personen,  die für die Vergiftungsfälle in Mädchenschulen "verantwortlich sind, wurden identifiziert und festgenommen. Gegen sie wird ermittelt", gab das Innenministerium der staatlichen Nachrichtenagentur IRNA zufolge am vergangenen Samstag bekannt. Unter den Verhafteten seien Personen mit "feindseligen Motiven", erklärte das Ministerium. Diese hätten zum Ziel gehabt, den Menschen Angst einzujagen und Schulen zur Schließung zu zwingen.

Irans Innenministerium stellte einige Tage später eine mögliche Verbindung der Vergiftungsfälle zu einer iranischen Exil-Oppositionsgruppe in Albanien her. Die iranischen Volksmudschahedin, Persisch: "Mudschahedin-e-Khalq" (MEK), werden von Teheran als Terrororganisation eingestuft. In dem IRNA-Bericht hieß es, die Ermittlungen gegen die Verdächtigen, einschließlich "ihrer möglichen Verbindungen zu terroristischen Organisationen wie der MEK", dauerten an.

Bewusstlose Schülerin auf einer Trage mit Klassenkameradinnen in TeheranBild: SalamPix/ABACA/picture alliance

Die Gruppe weist die Vorwürfe zurück. Die Anschuldigungen seien eine "lächerliche Show", um die "Rolle der Institutionen unter der Kontrolle" des geistlichen Oberhaupts Ayatollah Ali Chamenei "bei dem Verbrechen zu vertuschen", zitieren Nachrichtenagenturen Shahin Gobadi, einen in Paris ansässigen Sprecher der Volksmudschahedin. Die Vergiftung der Schulmädchen sei "das Werk von niemand anderem als dem klerikalen Regime und seinem Sicherheits- und Unterdrückungsapparat".

"Beschuldigung wenig glaubhaft"

Dass die Volksmudschahedin hinter den Anschlägen stünden, sei unwahrscheinlich, sagt Armin Eschraghi, Orientalist an der Universität Frankfurt am Main. Belege für ihre Anschuldigungen habe die Regierung bislang nicht vorgelegt. Der Teheraner Führung gehe es in erster Linie darum, einen Schuldigen zu finden. Dafür böten sich die Mudschahedin insofern an, als weite Teile der iranischen Bevölkerung ihnen höchst skeptisch gegenüberstehen, sagt Eschragi.

Er fügt hinzu: "Es scheint kaum wahrscheinlich, dass die Volksmudschahedin oder irgendeine andere nicht der Regierung unterstehende Gruppierung in der Lage wäre, über drei Monate hinweg in Hunderten von Schulen, verstreut über eine Distanz von über tausend Kilometern, solche Anschläge zu verüben, ohne entdeckt zu werden." Auch logistisch wären die Anschläge kaum von einer nicht-staatlichen Gruppe zu realisieren. "Solche Kampfstoffe hat man nicht zu Hause im Kühlschrank", sagt Eschraghi. "Die müssen produziert, gelagert, transportiert werden. Dazu dürften die Volksmudschahedin kaum in der Lage sein."

Opposition zum Schah und zu Chomeini

Die Volksmudschahedin haben eine bewegte Geschichte. Gegründet 1965, verbanden sie islamisches und marxistisches Gedankengut. Vorbild waren die Revolutionäre in Kuba um Fidel Castro und vor allem Ernesto "Che" Guevara, dessen Konzept des Guerrillakampfes sie zum Vorbild nahmen. Auf dieser Basis führten sie über Jahre einen opferreichen Kampf gegen den regierenden Schah, an dessen Sturz 1979 sie wesentlichen Anteil hatten.

Nachdem sich innerhalb der revolutionären Bewegung Ruholla Chomeini und dessen Anhänger durchgesetzt hatten, wurden Protestkundgebungen der Volksmudschahedin brutal niedergeschlagen. Es kam zu gewaltsamen Straßenschlachten mit Hunderten von Toten und Tausenden von Verhafteten. Der Kandidat der Volksmudschahedin, Massoud Rajavi, wurde zum politischen Rückzug gezwungen. In diesem Kontext schritten seine Anhänger zum bewaffneten Kampf gegen die neuen Herrscher. Bei mehreren Attentaten gegen die junge Islamische Republik kamen mehrere Repräsentanten des neuen Regimes zu Tode.

Als der Irak 1980 Iran angriff und so den ersten, bis 1988 dauernden ersten Golfkrieg auslöste, stellten sich die Volksmudschahedin auf die Seite der Angreifer. Viele von ihnen wurden gegen Ende des Krieges vom iranischen Staat hingerichtet. "Ihr Engagement auf Seiten des Iraks hat dazu beigetragen, dass weite Teile der Bevölkerung den Volksmudschahedin bis heute ablehnend gegenüberstehen", sagt Eschraghi.

Aschraf 3 in Albanien ist das Hauptquartier der iranischen Volksmudschahedin (Foto von 2019)Bild: Siavosh Hosseini/NurPhoto/picture alliance

Das im Krieg entstandene Lager Ashraf im Osten des Irak wurde nach Kriegsende zum Hauptquartier der Gruppe. Im Frühjahr 2003, während der US-Invasion im Irak, wurden die Mudschahedin entwaffnet. 2009 stürmten irakische Sicherheitskräfte das Lager, es kam zu mehreren Toten und Hunderten Verletzten. Seit 2016 wurden mehrere Hundert Mudschahedin nach Albanien gebracht, kein anderes Land hatte sich bereit erklärt, die Gruppe aufzunehmen. Diese errichtete dann nahe der Ortschaft Manza im Nordwesten Albaniens ein neues Lager, genannt Ashraf 3. Dort leben rund 2700 Mitglieder der Gruppe. Ihre Präsenz hat wiederholt zu diplomatischen Verstimmungen zwischen Iran und Albanien geführt.

Die Sicht des Bundestags

Im Dezember 2001 nahm die Europäische Union die Volksmudschahedin in ihre Terrorliste auf, auf der sie bis zum Januar 2009 blieb. Der Europäische Gerichtshof hatte die Begründung für die Einstufung der Volksmudschaheddin als Terror-Organisation und die damit verbundene Sperrung ihrer Konten für unzureichend erklärt im Dezember 2008. Die Bundesrepublik Deutschland hatte sich vergeblich für eine weitere Terroreinstufung eingesetzt. 

Kopf der Gruppe ist die Ehefrau von Massoud Rajavi, Maryam Rajavi. Massoud Rajavi wurde seit 2003 nicht mehr öffentlich gesehen, seine Frau ist Vorsitzende des den Mudschahedin verbundenen Nationalen Widerstandsrats Iran (NWRI).

Maryam Rajavi, hier links bei einer Veranstaltung in Albanien 2020, führt den Nationalen Widerstandsrats Iran (NWRI) anBild: Siavosh Hosseini/NurPhoto/picture alliance

"In Europa firmieren die Volksmudschahedin unter ihrem politischen Arm NWRI, der sich nach eigener Aussage zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten sowie zur Trennung von Religion und Politik bekennt", heißt es dazu in einer Drucksache des Deutschen Bundestags vom September 2018 als Antwort auf eine "Kleine Anfrage" mehrerer Abgeordneter von Bündnis 90 / Die Grünen. "Diesem Bekenntnis widersprechen der autoritäre Charakter der ursprünglich 'islamisch-marxistischen' Organisation und der bis heute andauernde Personenkult um die Anführerin Maryam Radschawi", heißt es in dem Bericht weiter. 

Wiederholt wurde der Gruppe eine sektenähnliche Struktur attestiert. "Nach Kenntnis der Bundesregierung war ein Verlassen der Gruppierung der Volksmudschahedin in der Vergangenheit aufgrund der autoritären Führung, des ausgeübten enormen psychischen Drucks sowie der drohenden sozialen Isolation und Ächtung nur unter erheblichen Schwierigkeiten möglich", heißt es etwa in der "Kleinen Drucksache" des Bundestags aus dem Jahr 2018.

Die deutsche Politik sieht die Volksmudschahedin sehr kritischBild: K. Steinkamp/blickwinkel/IMAGO

Für das den Mudschahedin verbundene "Deutsche Solidaritätskomitee für einen freien Iran" engagieren sich prominente deutsche Politiker, so die ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestags, Rita Süßmuth (CDU), die in dessen Beirat sitzt, oder der Bundestagsabgeordnete Martin Patzelt (CDU).

"Isolierte Gruppe"  

Dass die Volksmudschahedin in der politischen Zukunft Irans eine bedeutende Rolle spielen könnten, sei eher unwahrscheinlich, sagt Armin Eschraghi von der Universität Frankfurt am Main. "Man kann sagen, dass die Volksmudschahedin weitgehend für sich selbst stehen. Sie haben, soweit ersichtlich, nur eine vergleichsweise geringe Zahl von Mitgliedern, und es ist so gut wie keine andere Oppositionsgruppe bekannt, die bereit wäre, sich mit den Mudschahedin zusammentun. Im Gegenteil, man distanziert sich sehr davon. Eine Alternative zum Regime stellen sie sicher nicht dar."

Hinweis: In einer früheren Version dieses Artikels war die Terrorlistung der Volksmudschahedin nicht ausreichend deutlich erläutert. Dies wurde korrigiert. Des Weiteren wurde eine Passage zu einem ungeklärten Anschlag auf Chamenei getilgt. 

 

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika