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Deutschland und sein Antisemitismusproblem

Christine Lehnen
12. Oktober 2021

Die Anfeindung des jüdischen Musikers Gil Ofarim zeigt erneut: Deutschland hat den Antisemitismus nicht im Griff. Für Jüdinnen und Juden ist er Alltag.

Porträtfoto von Musiker Gil Ofarim
"Aus der Mitte der Gesellschaft": Der jüdische Musiker Gil Ofarim wurde in einem Leipziger Hotel antisemitisch angefeindet Bild: Gerald Matzka/dpa/picture alliance

Der Vorfall bestimmt zurzeit eine weitere Debatte über Antisemitismus in Deutschland: Der Musiker Gil Ofarim, unter anderem bekannt durch seine Teilnahme an der populären Talentshow "The Voice of Germany", wurde nach eigenen Angaben Anfang Oktober in einem Hotel in Leipzig schikaniert: Ein Gast und ein Mitarbeiter hätten ihn dazu aufgefordert, seine Kette abzulegen, wenn er in dem Hotel übernachten wolle. Ofarim trug einen Anhänger in Form eines Davidsterns.

In einem Video schilderte Ofarim den Vorfall und veröffentlichte es auf Instagram. Mehr als 3 Millionen Mal wurde es bisher angesehen und hat die Debatte über Judenfeindlichkeit in Deutschland neu entfacht. Das Hotel hat sich bei ihm entschuldigt, der betroffene Mitarbeiter hingegen eine Klage wegen Verleumdung gegen Ofarim eingereicht. Der Mitarbeiter schildert die Ergebnisse anders als der Musiker. 

Im DW-Interview betont Gil Ofarim, dass es ihm nicht um seine Person gehe: "Ich bin nur einer von vielen, denen es passiert." Dass es einen Prominenten brauche, um Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass jüdische Menschen tagtäglich in Deutschland diskriminiert würden, frustriere ihn: "Von den ganzen anderen Menschen, denen es jeden Tag passiert auf deutschen Straßen, redet keiner. Das ist für mich beschämend und traurig."

Diskriminierung ist für jüdische Menschen in Deutschland Alltag

Bewusst habe er Antisemitismus zum ersten Mal in der weiterführenden Schule in München erlebt, berichtet Ofarim der DW. Ein Mitschüler fragte ihn, ob er Jude sei. "Ich antwortete mit ja. Daraufhin fing er an zu lachen und sagte: Dachau ist ja nicht weit von hier."

Das Konzentrationslager Dachau lag rund 25 Kilometer entfernt von München. Es war eines der ersten, das nach der Machtergreifung durch Adolf Hitler eingerichtet wurde. Noch heute befindet sich dort eine der wichtigsten Gedenkstätten des Holocaust in Deutschland.

Der Vorfall im Vier-Sterne-Hotel in Leipzig, wie Ofarim ihn schildert, sei für ihn aber besonders gewesen, so der Künstler: "Was mich schockiert hat war, dass es dieses Mal nicht von rechts außen kommt, oder von links außen, sondern aus der Mitte der Gesellschaft, in einem Hotel, das jeden Tag Menschen aus der ganzen Welt begrüßt."

Cázes: "Gibt und gab nie einen antisemitismus-freien Raum in Deutschland"

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bestätigen, dass Antisemitismus genauso ein Phänomen der Mitte wie auch der extremen Ränder ist. Laura Cazés von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland fasst die Ergebnisse der jüngsten Forschung im Telefongespräch mit der DW zusammen: "Jüdische Menschen in Deutschland können überall Diskriminierungserfahrungen machen. Es gibt kein Milieu, das frei davon ist." 

Jüdinnen und Juden würden sowohl direkt antisemitisch angesprochen als auch indirekter diskriminiert, durch judenfeindliche Erzählmuster. Ein solches nach wie vor weitverbreitetes Erzählmuster sei, dass behauptet würde, jüdische Menschen würden im Hintergrund die Strippen ziehen. Hier wird immer noch von einer Art jüdischen Verschwörung ausgegangen - ein Welterklärungsmuster, das direkt aus dem Nationalsozialismus stammt. Deshalb sei es laut Cazés wichtig, anzuerkennen und festzuhalten: "Es gibt und es gab nie einen antisemitismus-freien Raum in Deutschland." 

Fall Ofarim nur "Spitze des Eisbergs", sagt Laura Cazés, Autorin und Referentin der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in DeutschlandBild: Robert Poticha

Fall Ofarim nur Spitze des Eisberges

Diese judenfeindliche Diskriminierung bezeichnet Laura Cazés als "Grundrauschen" oder "Frequenz", die Jüdinnen und Juden genau hören würden. In Krisenzeiten nehme dieses Rauschen zu. Wenn Menschen dann darauf hingewiesen würden, dass sie antisemitische Narrative verwenden würden, würden die das gar nicht verstehen. "Niemand will in Deutschland Antisemit sein", erklärt Cazés. "Dadurch wird es noch schwieriger, das Thema anzusprechen."

Ein Fall wie der von Gil Ofarim, der die Debatte dann temporär bestimme, sei dabei nur die "Spitze des Eisberges", so Cazés. Das müssten die Medien auch so wiedergeben, statt sich immer wieder auf vermeintliche Einzelfälle zu stürzen, wenn sich die Situation verbessern soll. Antisemitismus sei nicht ein "Flickenteppich von Einzelfällen", sondern ein gesellschaftliches internalisiertes Erklärungsmuster.

Künstlerin Lewitan: Antisemitismus hat in Deutschland zugenommen

Zu einer Verbesserung der Lage können nicht nur Zivilcourage und die Medien, sondern auch die Kunst beitragen: Dieser Überzeugung ist die jüdisch-deutsche Künstlerin Ilana Lewitan. Auch sie und ihre Töchter machen im Alltag regelmäßig Diskriminierungserfahrungen, berichtet sie der DW im Telefongespräch. Lewitan erzählt von einer Mitschülerin in der Grundschule, die ihr eines Tages die Freundschaft kündigte. Der Grund: Ihre Großmutter wolle nicht, dass sie mit einer Jüdin befreundet sei. In der Universität wurde ihr dann bei einer Gruppenarbeit gesagt, "Juden gehen für ihren Erfolg doch bekanntermaßen über Leichen."

Gleichzeitig berichtet Lewitan von subtileren Arten der Diskriminierung, auch in ihrem Berufsleben: "Manchmal wird mir gesagt: Hast es gut, dass es toll läuft bei deinen jüdischen Connections. Nach dem Motto: Ich habe Vorteile davon, weil wir ja alle so vernetzt und vermögend sind."

Wenn sie das dann anspreche, sei kein Bewusstsein dafür da, dass ihr Gegenüber mit antisemitischen Narrativen arbeite, so Lewitan. Sie erlebt, dass der Antisemitismus in Deutschland zugenommen habe.

Jüdische Künstler in Deutschland

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Gil Ofarim: "Etwas muss sich ändern"

Sie erfahre aber auch viel Solidarität und Offenheit, zum Beispiel im Rahmen ihrer aktuellen Ausstellung "Wo bist du, Adam?". Nach sieben Monaten in München hat sie diese nun nach Berlin gebracht. In der Ausstellung setzt sie sich mit vielen Facetten ihrer Identität auseinander, auch mit der jüdischen. "Über die Kunst können andere Sinne angesprochen werden", ist Lewitan überzeugt. Dadurch entstehe ein Begegnungsraum, in dem Menschen ins Gespräch kommen, auch Fragen gestellt und Antworten gemeinsam gefunden werden können.

Mit Erfolg, so berichtet die Künstlerin: Während ihrer Ausstellung in München habe sie erlebt, wie junge Menschen angefangen hätten zu weinen, während sie sich ein Interview mit dem inzwischen verstorbenen Holocaust-Überlebenden Max Mannheimer anhörten. Ilana Lewitan hofft, so etwas in der Gesellschaft ändern zu können.

Der Musiker Gil Ofarim teilt diese Hoffnung. "Mein Vater hat immer gesagt: 'Gil, bitte werd nicht politisch, denn das könnte gefährlich werden.'" Aber nach dem Vorfall in Leipzig, so wie er ihn schildert, wollte er nicht länger schweigen: "Das war jetzt einfach einmal zu viel. Etwas muss sich ändern."

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