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Glaube

Glauben und Realität

7. Juni 2025

Was, wenn Glaube mehr ist als Routine? Ein Blick auf biblische Geschichten zeigt: Hinter dem Selbstverständlichen steckt oft mutige, reale Entscheidung. Ein Beitrag der katholischen Kirche.

Brasilien Rio de Janeiro 2014 | Weihnachtskrippe mit José und schwangerer Maria im Stadtteil Gloria
Bild: Roberto Filho/IMAGO

Selbstverständlichkeit. Ein Wort, das zwei Gesichter hat. Einerseits würde ohne Selbstverständliches unser Leben nur aus außergewöhnlichen Ereignissen (Action) bestehen, anderseits wird vieles im Alltag zu selbstverständlich. Durch den Alltag gewöhnen wir uns an manche Sachen oder Menschen so, dass wir sie manchmal gar nicht merken oder bemerken. Wenn ich mir einen Menschen vor 300 Jahren vorstelle, dann hat für ihn das Gebet „tägliches Brot gib uns heute“ eine ganz andere Bedeutung, als für einen Menschen im 21 Jahrhundert. Es ist schwer geworden um „tägliches Brot“ zu beten, wenn der Kühlschrank voll ist. Für einen Satz „ich fliege heute nach München und anschließend nach London, bin aber Ende der Woche wieder in Düsseldorf“ würde man vor 300 hundert Jahren im besten Fall aus der Kirche exkommuniziert oder im wahrscheinlichsten Fall als Hexe am Feuer verbrannt. An diese Sachen und Möglichkeiten haben wir uns gewöhnt, sie sind zu unserem Alltag geworden und somit auch selbstverständlich.  

Ähnlich ist es uns auch mit Christentum ergangen. Manche Sachen sind uns einfach alltäglich geworden und wir merken sie nicht. Wir leben neben und in der Nähe von Kirchen – Ostern und Weihnachten sind für uns Urlaubstage geworden. Wir nehmen diese Sachen, Orte und Ereignisse als selbstverständlich wahr ohne darüber nachzudenken, was an diesem Tag wirklich passiert. Selbst wir, die noch aktiven Christen sind, nehmen vieles alltäglich und selbstverständlich, ohne darüber realistisch nachzudenken. Dadurch verliert unser Glauben eine wichtige Komponente, nämlich die Realität. Es ist für uns so selbstverständlich, dass Jesus vor 2000 Jahren geboren und im Alter von 30 Jahren nach der Taufe zum Messias wurde. Danach vollbrachte er Wunder und predigte bis es für die Pharisäer und Sadduzäer zu viel geworden war und er von ihnen gekreuzigt wurde, am dritten Tag jedoch auferstanden ist. So oder so ähnlich könnte man das Christentum heutzutage beschreiben. Wir haben es vergessen, dass hinter all dem die realen Personen und realen Ereignisse standen. 

Wenn ich an Weihnachten denke, dann fällt mir ein 16-jähriges Mädchen ein, dass zwar von Erzengel Gabriel eine Nachricht bekommen hat (Lk. 1, 26-38), jedoch neun Monate schwanger umherlaufen musste, sieben Tage die Woche, vierundzwanzig Stunden am Tag. Die Verwandten, Freunde oder Nachbarn haben keine Nachricht vom Engel erhalten, bekamen aber den wachsenden Bauch bei Maria mit. Ich könnte nur erahnen, was Maria zu dieser Zeit ertragen musste. Wenn zu einem von uns unsere Tochter gekommen wäre und uns die Botschaft gebracht hätte, ich bin schwanger mit 16, und zwar vom Heiligen Geist. Wie würden wir auf so eine Nachricht reagieren? Ich vermute, dass unser erster Gang zum Gynäkologen und der zweite zum Psychiater wäre. Heutzutage hätte Jesus ganz wenige Chance gehabt, es in dieser Art und Weise auf die Erde zu schaffen. Dass es dazu gekommen ist, verdanken wir Maria.  

Oder Josef. Was war sein erster Gedanke, nach dem er erfahren hat, dass Maria schwanger ist? Maria zu entlassen Mt. 1:19. Ja, Gott hat im Schlaf zu ihm gesprochen, aber wie viele von uns würden sich auf so eine Art überzeugen lassen. Es geht nicht um irgendeine Einzeltat. Es geht darum, ein Leben mit einer aus dem Tempel entlassenen, sechszehnjährigen Jungfrau, die plötzlich schwanger geworden ist, zu verbringen. Man braucht Mut und Glauben, um sich auf so was einzulassen.  

Oder die Weisen aus dem Morgenland (Mt.2:1-12). Als erstes gehen Sie zu Herodes. Selbstverständlich, wo sonst sollte ein König geboren werden? Im Palast bei den Mächtigen. So weit so gut. Und dann die Kehrtwende. Der König ist nicht hier, sondern in einem Stall. Wie viel Glaube muss man haben, um ein Kind in einem Stall, wo alles stinkt und wo mehr Tiere als Menschen anwesend sind, für einen König zu halten. Wenn wir es realistisch betrachten, ist es eine riesige Glaubenstat. Sie waren monate- oder sogar jahrelang unterwegs, mühten sich Tag und Nacht, um einen König zu treffen und treffen ihn wo? Im Stall.  

Oder die Apostel. Vergessen wir für einen Augenblick alles, was wir über das Neue Testament wissen. Und hören uns die Worte Jesus neu an: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben“ Joh. 6:54. Es klingt doch nach purem Kannibalismus? Das wird den Christen im Römischen Reich zum Verhängnis. Dass die Apostel bei Jesus geblieben sind, scheint ein Wunder zu sein. Ein Wunder oder eben der Glauben. Ein Glaube, welcher in der Realität seine Verwendung gefunden hat. Deswegen gebührt allen diesen Personen unsere Bewunderung. 

Es hilft sehr die Personen aus der Bibel, unerheblich ob Altes oder Neues Testament, mit realen Augen und unter realen Umständen zu betrachten, um zu verstehen, dass sie es mit dem Glauben nicht leichter als wir hatten. Aber der Glaube ist für diese Personen immer zum Vorteil geworden, wenn auch nicht immer sofort. Wenn Josef, die Weisen, Maria, die Apostel oder all diese anderen Personen aus der Bibel sich anders entschieden hätten, würde die Geschichte der Menschheit anders aussehen. Egal, ob wir an Gott Glauben oder nicht.  

 

Kurzvita: Pfr. Mykola Pavlyk ist seit 2004 ukrainischer Seelsorger in Düsseldorf und betreut dort eine ukrainische Gemeinde. 

Dieser Beitrag wird redaktionell von den christlichen Kirchen verantwortet.