Historiker: Gorbatschow setzte gezielt auf Kultur
31. August 2022Deutsche Welle: Herr Professor Katzer, was Michail Gorbatschow gewollt hat, den Kommunismus zu reformieren, hat er nicht erreicht. Und was er erreicht hat, den Kommunismus zu beseitigen, hat er so nicht gewollt, schreibt der Gorbatschow-Biograph und Pulitzer-Preisträger William Taubman. Teilen Sie dieses Fazit: War Michail Gorbatschow ein tragischer Held?
Nikolaus Katzer: Ja, man könnte ihn als tragischen Helden bezeichnen. Wenn man seine Schriften aus den Perestroika-Jahren liest merkt man doch, dass er sich einer Illusion hingegeben hat, dass der Sozialismus mit den systemimmanenten Mitteln zu verändern sei. Insofern: Diese Aufgabe ist zu groß und nicht zu bewältigen gewesen. Zur historischen Leistung gehört aber zweifellos, dass er die Welt nachhaltig verändert hat. Das ist sicherlich seiner Person, seiner Persönlichkeit zuzuschreiben. Er hat einen neuen Umgang mit der eigenen Geschichte gefordert. Er hat auch in Ansätzen eine neue Sprache für diesen Umgang, auch für die Kommunikation in der Gegenwart zumindest angestoßen. Sodass man schon sagen kann: Mit Gorbatschow beginnt tatsächlich eine neue Epoche in der Geschichte Russlands. Das müssen wir so sagen, denn eine Fortsetzung der sowjetischen Geschichte gab es nicht.
Gorbatschow krempelte das stagnierende sowjetische System um - und sorgte so für sein Ende. Im westlichen Ausland galt er als Hoffnungsträger, im eigenen Land dagegen als Totengräber. Woraus schöpfte Gorbatschow seine Reformideen?
Er ist sicherlich stark geprägt durch die Jahre des kulturellen Tauwetters in den 1950er-Jahren und dann sicherlich auch durch persönliche Erfahrungen in den verschiedenen Ämtern, die er seit seinem Studium in der sowjetischen Hierarchie ausübte. Die Unmöglichkeit, Reformen nachhaltig umzusetzen, hat ihn wohl dazu veranlasst, die Chance, die sich Mitte der 80er-Jahre geboten hat, beim Schopf zu packen und das Unmögliche - wie wir jetzt im Nachhinein wissen - doch zu schaffen, nämlich ein riesiges Land mit einem erstarrten Wirtschaftssystem auf ein neues Gleis zu heben.
Glasnost und Perestroika - Offenheit und Umgestaltung - zwei Begriffe, die die Zielrichtung von Gorbatschows Reformen beschreiben. Wie hat die Kulturszene auf diesen Wandel reagiert?
Gorbatschow ist sich durchaus bewusst gewesen, dass die Kultur - die Literatur, das Theater, die Kunst - ein wichtiger Faktor bei der Umgestaltung der Gesellschaft sein konnte. Auch da erinnert er sich an die Jahre des Tauwetters, wo die Kultur eingesetzt wurde, um die Entstalinisierung vorzubereiten. Daran knüpfte er in der Perestroika an. Aber hier gilt, dass der Kulturbereich sich schnell dynamisch veränderte, der Kontrolle durch die Partei entzog und von daher in den Jahren der Perestroika eine eigenständige dynamische Kraft wurde. Wie es dann mit den Jahren weiterging, lag jenseits der Verantwortlichkeit Gorbatschows. Aber die Veränderungen in der Perestroika haben auch den Literaturbetrieb, das Theater, die Kunstszene nachhaltig verändert, sodass wir heute vor vollkommen veränderten Rahmenbedingungen stehen.
Gorbatschow beendete Ende 1986 die Verbannung von Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow. Filme, die jahrelang zurückgehalten worden sind, kamen danach ins Kino. Pasternaks "Doktor Schiwago" oder Bulgakows "Hundeherz" - weltbekannte Romane, die in der Sowjetunion verboten waren, durften wieder erscheinen. Hat Gorbatschow die Kulturkarte gezielt gespielt?
Ich würde schon sagen: Im Kern hat er verstanden, dass man mit den Mitteln, die der Kulturbetrieb bereitstellt, den Veränderungsprozess nicht nur anstoßen, sondern eben auch zügig beschleunigt vorantreiben kann.
Die meisten Künstler führten in der Sowjetunion ja ein vergleichsweise privilegiertes Leben. Sie durften zwar nicht öffentlich dafür aber im Untergrund ausstellen. Hat Glasnost den Nonkonformisten einerseits eine neue Freiheit geschenkt, ihnen aber andererseits die alte Unabhängigkeit genommen?
Natürlich hat die Perestroika zunächst ein hohes Maß an Freizügigkeit geschaffen, die den Künstlern, Schriftstellern und Dichtern zugute kam. Aber was gerade etwa den Underground seit den 70er-Jahren betrifft, die nonkonformistische Literatur, so ist das nur ein sehr kurzer Frühling gewesen. Denn nach 1991 mussten sich all diese Gruppen, Bewegungen, Trends im Kulturbetrieb dem starken Kommerzialisierungsprozess stellen. Und das führte dazu, dass der Preis für diese Teile der sowjetischen Kultur sehr hoch war. Umgekehrt muss man sagen: Diese Bewegungen haben stets für eine Freiheit der Kunst gekämpft.
Gibt es aus Ihrer Sicht eine gemeinsame deutsch-russische Sicht auf die Gorbatschow-Jahre?
Schwierig zu beantworten. Ich würde schon sagen, dass da ein großer Abstand klafft. Die Wahrnehmung in Deutschland ist stets sehr positiv gewesen. Ich war zur Amtszeit Michail Gorbatschows 1989 in Bonn Assistent an der Universität und habe erlebt, wie er mit seiner Frau die Hauptstadt besuchte. Die Straßen waren überfüllt, die jungen Leute begeistert. Er zeigte sich auf der Treppe des Rathauses. Eine solche Begeisterung hat es in der Sowjetunion und danach in Russland nie gegeben. Die Euphorie, die zu Beginn herrschte, als er die ersten Lockerungsmaßnahmen nach 1987 einführte, verschwand sehr schnell, weil die wirtschaftlichen Probleme, die Versorgungsprobleme der Bevölkerung, die Arbeitslosigkeit, so rapide zunahmen, dass die Menschen vor allem mit der Sicherung ihrer Existenz zu kämpfen hatten. Da versanken die hehren Ziele der Perestroika in diesem Sumpf des Alltags.
Der Historiker Nikolaus Katzer, Jahrgang 1952, ist emeritierter Professor für osteuropäische Geschichte an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Bis 2018 leitete er das Deutsche Historische Institut in Moskau.
Das Gespräch führte Stefan Dege.