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Glaube

Gott oder das Gold

12. Oktober 2024

Die "Entdeckung" Amerikas brachte Leid und Zerstörung für die indigenen Völker. Doch was können wir heute aus dieser Geschichte für unser Miteinander und unsere Werte lernen? Ein Beitrag der Katholischen Kirche.

Mexiko Chiapas Wallfahrt San Marcos
Bild: Jürgen Escher/Pressefoto Adveniat

Der 12. Oktober wird in vielen Ländern als Kolumbus-Tag gefeiert. Erinnert wird dabei an die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus am 12. Oktober 1492. Allerdings war der spanische Seefahrer bis zum Ende seines Lebens der Überzeugung, er habe Indien entdeckt. Doch wer wurde hier eigentlich entdeckt? Man könnte die Perspektive auch umkehren: die ursprünglichen Völker entdeckten die Europäer, und zwar von ihrer schlechtesten Seite. In ihrer Gier nach Gold begingen sie einen millionenfachen Völkermord. Kreuz und Schwert gingen ein verhängnisvolles Bündnis ein. Die räuberische Eroberung Amerikas wurde mit der Taufe der Heiden gerechtfertigt, um so ihre Seelen zu retten. Eine kleine Geschichte beschreibt dies aus der Perspektive der ursprünglichen Völker so: „Als der weiße Mann in unser Land kam, hatte er die Bibel und wir hatten das Land. Der weiße Mann sagte zu uns: ‚Lasset uns beten.‘ Nach dem Gebet hatte der weiße Mann das Land, und wir hatten die Bibel.“ 
 
Schlimm war, dass Päpste im 15. Jahrhundert den europäischen Großmächten die Erlaubnis erteilten, die Länder der Ungläubigen unter dem Vorwand der Verbreitung des christlichen Glaubens zu erobern und ihre Bewohner zu unterwerfen und zu versklaven. Die offizielle Kirche hat lange gebraucht, bis sie sich von dieser sogenannten Entdeckungs-Doktrin verabschiedet hat. Erst im März 2023 veröffentlichte der Vatikan ein Dokument, in dem zugegeben wurde, dass die Kirche die Würde und Rechte der indigenen Völker nicht anerkannt habe. Wörtlich heisst es: „Die Entdeckungs-Doktrin ist nicht Teil der katholischen Lehre.“  
 
Doch es gab auch rühmliche Ausnahmen unter den Eroberern. Der Spanier Bartolomé de las Casas erkannte das große Unrecht, das hier verübt wurde und bekehrte sich. Er wurde Dominikaner und verteidigte die Würde und die Rechte der indigenen Bevölkerung. In einer Predigt redete er den Konquistadoren wortmächtig ins Gewissen: „Mit welchem Recht und welcher Gerechtigkeit haltet ihr diese Indios in einer so grausamen und schrecklichen Knechtschaft? Mit welcher Befugnis habt ihr diese Völker blutig bekriegt, die ruhig und friedlich in ihren Ländern lebten, habt sie in ungezählter Menge gemartert und gemordet? Ihr unterdrückt sie und plagt sie, ohne ihnen zu essen zu geben und sie in ihren Krankheiten zu heilen, die über sie kommen durch die maßlose Arbeit, die ihr ihnen auferlegt, und sie sterben – oder besser gesagt: ihr tötet sie, um Tag für Tag Gold zu gewinnen.“ 
 
Bartolomé de Las Casas wurde zu einem Vorläufer der Menschenrechte und der Inkulturation des christlichen Glaubens. Damit ist die Einpflanzung des Evangeliums in andere Kulturen gemeint. Inkulturation setzt voraus, dass Gottes Geist in allen Kulturen wirkt und dass jede Kultur das Evangelium annehmen und aufnehmen kann. Eine weitere Voraussetzung ist, dass keine Kultur als einer anderen von vornherein als überlegen angesehen wird und dass das Christentum in seiner westlich-abendländischen Gestalt nicht als normativ für andere Kulturräume vertreten wird. Schließlich darf keine bestimmte Kultur als perfekt angesehen und keine Gestalt des christlichen Glaubens absolut gesetzt werden.  
 
Der theologische Schlüssel für das Verständnis von Inkulturation ist die Menschwerdung Gottes: Gott läßt sich auf diese Welt, auf ihre Geschichte und auf eine ganz bestimmte  Kultur ein. So ist letztlich Jesus Christus selbst das Modell für die Inkulturation. Wirkliche Inkulturation des christlichen Glaubens bedeutet, dass dieser die Kultur beseelt, verwandelt und erneuert. Damit werden weder die christliche Botschaft noch die betreffende Kultur unverändert bleiben: etwas Neues entsteht.  
 
Wie eine friedliche und fruchtbare Begegnung von Christentum und indigenen Religionen und Kulturen in Lateinamerika hätte aussehen können, zeigt die Tradition der Marienerscheinung im mexikanischen Tepeyac. Der Überlieferung zufolge soll im 16. Jahrhundert Juan Diego, einem christlich gewordenen Indio, eine Frau erschienen sein, die die Sprache der Eingeborenen sprach und die Gesichtszüge der Mestizen hatte. Dies ist der Ursprung des großen Marienheiligtums von Guadalupe, in dem der Konflikt zwischen der europäischen Missionierung und den indigenen Kulturen symbolisch zu einem Ausgleich gekommen ist. 
 
Der Respekt vor der Würde und Vielfalt jeder Kultur und jedes Individuums bleibt auch heute eine zentrale Herausforderung. Von Menschen wie Bartolomé de Las Casas können wir heute immer noch lernen. Es geht darum, Machtstrukturen zu hinterfragen, die aus Unterdrückung und Ungerechtigkeit entstanden sind, und für ein Miteinander einzutreten, das von Gleichwertigkeit und gegenseitigem Respekt geprägt ist. Wir sollten uns bewusst machen, dass jede Form von Diskriminierung und Ausbeutung, sei es auf kultureller, sozialer oder wirtschaftlicher Ebene, immer noch existiert. Daran erinnert uns dieser 12. Oktober jedes Jahr aufs Neue. Nur durch das Lernen aus der Vergangenheit und das aktive Fördern von Toleranz und Empathie können wir eine gerechtere Welt schaffen, in der Vielfalt als Bereicherung und nicht als Bedrohung angesehen wird. 
 
Martin Maier SJ
 
Zum Autor:
Pater Martin Maier ist Hauptgeschäftsführer des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat. 

Bild: Martin Steffen/Pressefoto Adveniat