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Gesellschaft

Brasiliens Evangelikale ringen mit COVID-19

Thomas Milz
5. April 2020

In Brasilien ringen evangelikale Prediger um die Deutungshoheit über COVID-19. Das klingt ähnlich wie bei Präsident Bolsonaro. Doch die Gläubigen wirken unbeeindruckt: Die Tempel der Großkirchen jedenfalls bleiben leer.

Brasilien Corona-Pandemie Silas Malafaia
Bild: picture-alliance/AP Photo/L. Correa

Als Strategie des Satans bezeichnete Edir Macedo, Gründer der mächtigen "Igreja Universal do Reino de Deus" in einem Video, SARS-CoV-2. Wer keine Angst habe, dem könne das Coronavirus nichts anhaben, so der Multimillionär, dem neben dem weltweiten Netz aus evangelikalen Tempeln auch ein einflussreicher TV-Sender in Brasilien gehört. Valdemiro Santiago, Chef der "Igreja Mundial do Poder de Deus", hält das Virus gar für eine Rache Gottes.

Am lautesten tönte in den letzten Wochen jedoch Silas Malafaia, der als religiöser Guru von Präsident Jair Bolsonaro gilt. Genau wie dieser kritisiert auch der Chef der "Assembleia de Deus Vitória em Cristo" den Shutdown. "Wird das Coronavirus Menschen töten? Ja. Aber wenn es soziales Chaos gibt, dann sterben noch mehr. Und die Kirchen sind nun einmal essenziell für die Menschen, die verzweifelt, voller Angst und depressiv sind und in keinem Krankenhaus aufgenommen werden", so Malafaia.

Riten in leeren Kultstätten

Trotz des Verbots von Menschenansammlungen, das auch in Brasilien gilt, bleiben zahlreiche Tempel geöffnet. Doch die meisten sind leer. Also halten die evangelikalen Prediger ihre Gottesdienste ohne Gemeinde ab und senden sie ins Internet. "Der Rückgang trifft alle Kirchen, es gibt einen enormen Rückgang der Besucherzahlen", sagt der Religionssoziologe Clemir Fernandes. "Je mehr die Presse berichtet und die Leute gute Informationen haben, umso stärker nehmen sie die Risiken wahr. Denn die Todeszahlen steigen ja."

Silas Malafaia, Chef der "Assembleia de Deus Vitória em Cristo", hält einen Gottesdienst vor leeren Sitzreihen für die KameraBild: picture-alliance/AP Photo/L. Correa

Neben den Großkirchen existiert ein schier unendliches Universum kleinerer Kirchen. Vor allem kleine Kirchen in den Armenvierteln hätten weiterhin Zulauf, sagt der Religionsexperte, aber er meint: "Die Leute sind nicht verantwortungslos. Sie gehen ja auch in den Supermarkt, der viel voller ist als die Kirche an der Ecke. Und in der Kirche fühlen sie sich sicher."

Zwischen Wissenschaft und Glaube

Vereinzelt wird zwar über Pastoren berichtet, die die Gefahren des Virus herunterspielen oder mit Gottes Hilfe besiegen wollen. Eine Kirche in Südbrasilien versprach gar eine Immunisierung gegen das Virus. "So etwas ist aber eher Folklore, geradezu eine Karikatur", sagt Fernandes und betont: "Repräsentativ für die evangelikale Welt an sich ist das nicht."

Im Gegenteil, sagt er, die evangelikale Welt sei äußerst aufgeschlossen gegenüber den Wissenschaften: "Die evangelikalen Kirchen der protestantischen Tradition nehmen die Wissenschaftspille und beten gleichzeitig; sie verzichten weder auf die eine noch die andere Welt."

Die Zahl der Katholiken in Brasilien schrumpft seit Jahren. Etwa jeder dritte Brasilianer gehört einer Freikirche anBild: picture-alliance/imageBROKER

Dass derart bizarre Episoden trotzdem von der Presse herausgehoben werden, liege auch daran, dass die Evangelikalen seit der Wahl Bolsonaros im Scheinwerferlicht stünden, glaubt der Soziologe.

Die Machtstruktur der Evangelikalen

Genau wie die Evangelikalen in den USA Donald Trump unterstützten, halfen sie in Brasilien Bolsonaro im Wahlkampf. Und wie Trump ist auch Bolsonaro schnell dabei, wenn es um die Verharmlosung der Corona-Pandemie geht, um das Bejubeln von möglichen Gegenmitteln oder um Verschwörungstheorien wie die, dass COVID-19 ein Angriff Chinas auf die westliche Welt sei.

Für Francisco Borba Ribeiro Neto, Professor der Katholischen Universität von São Paulo, hat das eine gewisse Folgerichtigkeit: Bolsonaro repräsentiere eine Art "Fundamentalismus der Außenseiter", sagt Borba Neto. Angesprochen fühlten sich davon Bevölkerungsgruppen, die sich an traditionellen Werten orientieren und sich angesichts der derzeitigen ökonomischen Entwicklungen ausgeschlossen und an den Rand gedrängt fühlen. Dazu gehöre auch ein passendes Feindbild. "Der Fundamentalist sieht die Welt voller Gefahren und versteckter Feinde, und die strenge Einhaltung von Normen und Doktrinen ist seine einzige Rettung vor dem Bösen in der Welt. Die Pandemie verstärkt dieses furchteinflößende Bild der heutigen Welt noch."

Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro (r.) steht den Evangelikalen nah, hier ganz wörtlich mit Kirchengründer Edir MacedoBild: Getty Images/AFP/E. Sa

Dabei gebe es einen engen Zusammenhang zwischen der Ablehnung des "Social Distancing" und der Verneinung von Gefahren durch den Klimawandel, weil beide die Wirtschaft in ihrer traditionellen Form bedrohen, argumentiert Borba Neto. Dabei gehe es letztlich gar nicht um die Wirtschaft, sondern darum, sich vom Gegner abzugrenzen: "Ihn als ideologische Vogelscheuche darzustellen, als gefährlich und lächerlich zugleich."

Das Geschäft geht vor

Religionssoziologe Fernandes sieht hinter der Verteufelung des gesellschaftlichen Shutdowns durch evangelikale Anführer wie Malafaia puren Geschäftssinn, ähnlich wie bei Unternehmern, die sich gegen die Schließungen aussprachen: "Malafaias Beziehung zu Bolsonaro ähnelt der von vielen Unternehmern. Er ist letztlich ein Unternehmer des Glaubens, der genau wie andere Unternehmer die eigenen Interessen verteidigt."

Politisch nachhaltig sei das Herunterspielen der COVID-19-Gefahr jedoch nicht, glaubt Fernandes. Genau wie in der gesamten Gesellschaft bröckele die Unterstützung für Bolsonaro derzeit auch unter den Evangelikalen, und sogar in der evangelikalen Parlamentariergruppe im brasilianischen Kongress. Schließlich, erinnert Fernandes, gebe es auch unter ihnen Ärzte und Abgeordnete, die etwas von Wissenschaft verstünden.