Grüne: Streit um Asyl, Sorge um Geld, Einigkeit in der Krise
Veröffentlicht 25. November 2023Zuletzt aktualisiert 26. November 2023Vier Tage, fast 4000 Gäste inklusive Journalisten: Der Parteitag der Grünen in Karlsruhe war das bestbesuchte und längste Treffen in der Parteigeschichte. Trotzdem blieb es im Saal die meiste Zeit fast still, genau wie im Foyer davor, wo sonst das Stimmengewirr etlicher Gespräche dröhnt. Kein Wunder: Die vielen Krisen, innen- wie außenpolitische, denen sich die Grünen als eine von drei Regierungsparteien gegenübersehen, verlangen ein hohes Maß an Konzentration.
Die Kriege in der Ukraine und in Nahost, die Inflation, die hohen Energiekosten, die gesellschaftliche Polarisierung in Deutschland, der Antisemitismus, die Migrationsdebatte: Jedes einzelne dieser Themen hätte für sich genommen einen ganzen Parteitag bestimmen können. Jetzt kommt alles auf einmal.
Heftige Debatten mit der "Grünen Jugend" zum Asyl
Für die Grünen besonders heikel: Die Asylbestimmungen sind verschärft worden in Deutschland und in der EU. Und zwar auch mit den Stimmen der Grünen. Die Debatte ist emotional, die Kritik einiger Delegierter ist scharf. Für viele der "Grünen Jugend", der Nachwuchsorganisation, gehen die Kompromisse zu weit, sie reden von "Scheinlösungen", denen die Grünen in der Opposition nie zugestimmt hätten.
"Es ist unehrlich, über Begrenzung zu reden, während die Welt in Flammen steht", ruft Vasili Franco in seiner Rede, er ist Mitglied im Berliner Abgeordnetenhaus. Die Grünen müssten weiterhin die Partei bleiben, die sich für eine humanitäre Migrationspolitik stark mache, betonen auch andere Delegierte: "Unmenschliche Asylpolitik ist keine Realität, das ist eine politische Entscheidung", sagt Katharina Stolla, Bundesvorsitzende der "Grünen Jugend".
Für den Vizekanzler Robert Habeck kommt das einem Misstrauensvotum gegen ihn und die anderen Grünen in der Regierung nah: "Ein Parteitag einer Regierungspartei ist kein Spiel", warnt er und sagt, er sehe die Forderungen als indirekte Aufforderung, die Ampelkoalition mit den Sozialdemokraten der SPD und der liberalen FDP zu verlassen. Am Ende aber stimmt der Parteitag der Linie des Bundesvorstands und der Grünen in der Regierung mehrheitlich zu.
Habeck will die Schuldenbremse reformieren
Ebenfalls heikel für die Grünen: der Bundeshaushalt. Anfang der Woche hatte ihn das Bundesverfassungsgericht, hier in Karlsruhe, für ungültig erklärt. Nun fehlt es eigentlich der gesamten Regierung an Geld.
Doch Habecks Ressort, das Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, trifft es wohl besonders hart. Denn das Urteil betraf vor allem 60 Milliarden übriggebliebene Euro aus dem Corona-Hilfsfonds, die in den Klimaschutz fließen sollten und jetzt nicht dürfen. Klimaschutz sei eine dauerhafte Aufgabe und falle - anders als akute Krisen wie Corona - unter die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse.
Und genau gegen die wetterte Habeck dann auch: Überall auf der Welt, sagt er, investierten die Staaten in eine nachhaltige Zukunft, die USA allein mit einer astronomischen Summe von rund 400 Milliarden US-Dollar. Und da rate die Opposition, in Deutschland zum Sparen? Das Haushaltsurteil war auf eine Verfassungsklage der Opposition von CDU und CSU hin ergangen.
Die Schuldenbremse im Grundgesetz sei so nicht mehr zeitgemäß, meint Habeck. Wenn der Staat seinen Unternehmen nicht helfe bei den Zukunftsinvestitionen, dann falle Deutschland im harten Wettbewerb als Wirtschafts- und Industriestandort zurück: "Mit der Schuldenbremse haben wir uns die Hände auf den Rücken gebunden und gehen in einen Boxkampf", sagt er am Freitag. Habeck plädiert dafür, dass die Bremse für den Kernbereich des Haushalts in Kraft bleibt, also für aktuelle Aufgaben, die ihren Nutzen im jeweiligen Haushaltsjahr entfalten. Investitionen in die Zukunft sollen dann nicht mehr der Schuldenbremse unterliegen.
Beklemmende Stille beim Thema Nahost
Dann ging es um den Nahen Osten. Seit dem Angriff auf Israel durch die militant-islamistische Palästinenserorganisation Hamas, die nicht nur westliche Staaten als Terrororganisation einstufen, hat die grüne Außenministerin Annalena Baerbock mehrmals die Region besucht. Fast bricht ihr die Stimme, als sie von einem Gespräch mit einem israelischen Familienvater berichtet, dessen Frau und Kinder in den Gazastreifen verschleppt wurden: "Am 7. Oktober hat die Hamas das Trauma der Shoah reaktiviert", sagt Baerbock.
Sie berichtet auch von Gesprächen mit palästinensischen Familien, die Opfer durch israelische Gegenschläge zu beklagen haben. Mit Blick auf die Folgen des Krieges hier in Deutschland stellt sie jedoch klar: "Antisemitischer Hass und Hetze sind keine Meinung."
Passend dazu haben die Grünen Hanna Veiler als Gastrednerin eingeladen. Als Vorsitzende der Jüdischen Studierendenunion ist sie Sprecherin von 25.000 jüdischen Studenten in Deutschland. Sie gibt Einblicke in ihre Gefühlslage: "Wir sind seit dem 7. Oktober nicht mehr dieselben. Alles, was in Israel passiert, hat Folgen für die weltweite Diaspora. Wir müssen jetzt unsere Identität verbergen. Die Studierenden trauen sich nicht mehr an die Universität." Beklemmende Stille im Saal. Immerhin: Während des Parteitags kam die Nachricht, dass erstmals Geiseln aus dem Gazastreifen freigekommen seien. Mittlerweile hat die Hamas 41 Gefangene ziehen lassen. Im Gegenzug hat Israel 78 palästinensische Frauen und Minderjährige aus dem Gefängnis entlassen.
Die Basis stützt diesmal die Parteiführung
So bedrückend sind diese Krisen, dass die eigentlich immer rebellische Basis der Grünen ihrer Parteiführung und ihren Ministerinnen und Ministern offenbar den Rücken stärken will. Unterm Strich sind es eher vereinzelte Delegierte, die das Auftreten in der Koalition monieren.
Sie berichten vom Gefühl, dass es die Grünen sind, die die Verunsicherung in der Bevölkerung am meisten zu spüren bekommen. Wobei manche finden, dass dies teilweise sogar zu Recht geschehe. Der Leipziger Delegierte Stanislav Elinson sagte der DW: "Wir müssen uns auch selbst hinterfragen, nicht immer nur mit dem Finger auf andere zeigen. Wir dürfen nicht zu radikal werden, wie beim Gebäude-Energie-Gesetz. Da sehe ich schon Handlungsbedarf auch bei uns."
Hat Habeck die Bürger verunsichert?
Mit einer Novelle des sogenannten Heizungsgesetzes hatte Robert Habeck als Wirtschaftsminister die Anforderungen an die Erneuerung von Gebäudeheizungen drastisch anheben wollen. Nach monatelangem Streit brachte die Regierungskoalition dann eine entschärfte Version durch den Bundesrat. Habecks Vorstoß hatte große Empörung in der Öffentlichkeit ausgelöst. Das sei nicht gut gelaufen, gestehen viele Delegierte in Karlsruhe ein. Aber deshalb die Regierung verlassen, wie manche Medien schon spekuliert haben?
Die Grünen wirken entschlossen, diese Regierungszeit gut zu Ende zu bringen, trotz all der erdrückenden Krisen. Ihrer Parteiführung haben sie jedenfalls das Vertrauen ausgesprochen und ihre Vorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour mit satten Mehrheiten wiedergewählt. Und fast geräuschlos ihr Programm für die Europawahl im kommenden Jahr verabschiedet.