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Politik

Grüner Umfragekönig

7. Juni 2019

In Umfragen stehen die Grünen erstmals vor Merkels Union. Die Ökopartei hat vom gesellschaftlichen Wandel profitiert, ihre Parteispitze ist beliebt. Doch der grüne Erfolg zeigt auch: Es geht ein Riss durch Deutschland.

Grünen-Spitze vor Bundesparteitag
Bild: picture-alliance/dpa/H. Schmidt

Westdeutschland, 1980. Papa kommt von der Arbeit, die Fleischwurst steht schon auf dem Tisch. Nur jede zweite Frau geht damals Arbeiten, Vegetarier gelten als sonderbar, Müll wird nicht getrennt. Ausländer nennt man meist noch Gastarbeiter. Und bei der nächsten Wahl stimmt man für CDU oder SPD. Im Bonner Bundestag stellen die Christ- und Sozialdemokraten 90 Prozent der Abgeordneten.

In einem anderen Land

"Wenn sie 1980 mit 2019 vergleichen, dann ist das nicht mehr das Deutschland, das es noch vor 40 Jahren war", sagt die Grünen-Politikerin Claudia Roth der DW. "Die deutsche Gesellschaft ist heute offener. Deutschland ist viel ökologischer geworden und wir haben endlich ein viel stärkeres Bewusstsein dafür, dass wir eine multikulturelle, multireligiöse Gesellschaft sind."

In der Tat: Der Ausländeranteil hat sich seit 1980 von knapp fünf auf mehr als 13 Prozent erhöht. Umweltschutz und Frauenrechte sind vielen Menschen heute wichtig. Fast zehn Millionen Deutsche essen kein Fleisch mehr. Atomkraftwerke werden nach und nach abgeschaltet. Homosexuelle heiraten. Und CDU/CSU sowie SPD erreichen laut Umfragen nicht mal 40 Prozent - zusammen.

Aus Protest wird Partei

Dieser gesellschaftliche Wandel hat die Grünen in Deutschland stark gemacht. "Und wir haben dazu beigetragen", sagt Roth, die fast elf Jahre lang Parteivorsitzende der Grünen war. Henne oder Ei - jedenfalls traf sich im Januar 1980 in Karlsruhe im Süden Deutschlands ein bunter Haufen politisch Engagierter, während Papa noch an seinem Butterbrot mit Fleischwurst kaute.

Grüne Kindertage: Gründung der Partei in Karlsruhe 1980Bild: Imago Images/F. Stark

Künstler, Kommunisten und Konservative waren dabei. Viele kamen aus der Friedensbewegung, die den Protest gegen das atomare Wettrüsten im Kalten Krieg organisierte. Andere hatten sich im Kampf für Naturschutz und gegen den Bau neuer Atomkraftwerke zusammengeschlossen. Manche werkelten seit 1968 an einer Revolution. Sie alle standen streitend in kleinen Grüppchen in der völlig überfüllten Stadthalle. Und gründeten dann doch noch eine gemeinsame Partei: die Grünen.

Können die Kanzler?

Kaum einer nahm die neue Partei ernst - zu chaotisch, zu spinnert, zu lang die Haare. Doch schon drei Jahre später schickten die Grünen 28 Abgeordnete nach Bonn in den Bundestag. Seitdem ging es, mit kleineren Rückschlägen, weiter aufwärts. Und seit einigen Monaten erreichen die Grünen ungeahnte Gipfel, knapp unter 20 Prozent bei Landtagswahlen, bei den Europawahlen Ende Mai sogar etwas darüber. Und würde am nächsten Sonntag ein neuer Bundestag gewählt, dann könnten sie sich sogar Hoffnungen aufs Kanzleramt machen. In Umfragen liegen die Grünen vor der CDU von Bundeskanzlerin Angela Merkel. 

Warum diese plötzliche Stärke der Grünen? "In den letzten Jahren ist es uns gelungen, die Partei zu modernisieren", sagt Michael Kellner, der als politischer Geschäftsführer der Grünen unter anderem für den Wahlkampf zuständig ist. Er hat dafür gesorgt, dass die Grünen-Mitglieder sich über eine digitale Plattform an der Parteiarbeit beteiligen können. Beim Schritt ins Digitale hängt die politische Konkurrenz hinterher. "Sicherlich profitieren wir auch von einer großen Koalition, die ziemlich morsch ist und wenig Gestaltungsanspruch für dieses Land ausstrahlt", sagt Kellner im Gespräch mit der DW.

Gute Laune im Duett

Zudem habe der "gut gelaunte personelle Aufbruch" die Partei gestärkt, so Kellner weiter. Das Duo Annalena Baerbock und Robert Habeck steht seit Januar 2018 an der Spitze der Partei. Die beiden gelten als "Realos", die Wähler nicht mit zu viel grüner Ideologie abschrecken. Laut ZDF-Politbarometer hat Habeck in den Augen der Deutschen mittlerweile sogar Angela Merkel als "wichtigster Politiker" abgelöst - auch wenn der promovierte Literat und Polit-Quereinsteiger noch lange nicht so bekannt ist wie die Kanzlerin.

Sie hier, er da: seit Januar 2018 geben Annalena Baerbock und Robert Habeck bei den Grünen die Richtung vorBild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

"Ich habe Phasen erlebt, wo der Streit in der grünen Partei nicht inhaltlich war, wo es unter die Gürtellinie ging, gegen Personen", erzählt Roth von der Selbstzerfleischung, die früher zum grünen Markenkern gehörte. "Das war absolut destruktiv." Diese Zeiten scheinen überwunden. Die Grünen treten geschlossen auf, stehen hinter ihren Vorsitzenden wie selten in fast 40 Jahren Parteigeschichte. Und sie machen seltener als früher als "Verbotspartei" von sich reden, die den Deutschen ihre Wurst, ihr Auto oder ihre Flugreise madig machen will. Man wolle die Politik verändern, nicht den Menschen, so das Mantra von Habeck.

Klima: günstig

"Außerdem haben wir mit dem Klimathema natürlich ein Thema der Zeit", sagt Grünen-Geschäftsführer Kellner. Seit Jahren fordern die Grünen, Kohlekraftwerke abzuschalten und den Ausstoß von klimaschädlichem CO2 zu besteuern. Themen, die der Bevölkerung lange Zeit nicht wichtig waren. Doch seit einigen Monaten nennen die Deutschen Umwelt- und Klimaschutz, wenn man sie nach den größten Herausforderungen der Zukunft fragt. "Ich glaube, dass war noch weit weg für viele Menschen", sagt Claudia Roth. "Aber wir haben im letzten Jahr durch den brutal heißen Sommer und die Dürre auch in Deutschland erlebt, dass die Klimakrise radikale Realität ist."

Kosmopoliten für die Liebe: die Jugendbewegung "Fridays for Future" demonstriert für KlimaschutzBild: picture-alliance/dpa/P. Zinken

Nur noch eine Frage der Zeit also, bis Habeck oder Baerbock ins Kanzleramt einziehen? "Es ist nicht zu vermuten, dass die Grünen sich auf diesem Niveau halten können", sagt der Soziologe Holger Lengfeld im DW-Interview. "Die Rahmenbedingungen sind für die Partei derzeit einfach besonders günstig." Lengfeld erwähnt die "Fridays for Future"-Bewegung, die dem Thema Klimaschutz neuen Schub verliehen hat.

Die Rückkehr der Traditionalisten

Lengfeld nennt die Grünen "Partei der Kosmopoliten". Neben der Umwelt seien ihnen Freiheitsrechte wichtig, Selbstentfaltung und Solidarität, auch gegenüber Flüchtlingen. Die Zahl der Kosmopoliten sei in den vergangenen Jahrzehnten angestiegen, bedingt durch wirtschaftlichen Aufschwung und höhere Bildung. "Die gesellschaftliche Entwicklung verläuft aber nicht linear und für alle gleich", sagt Lengfeld. Die Verlierer des Wandels lehnten die Ideale der Grünen ab. "Sie möchten etwa, dass zunächst die eigene Bevölkerung versorgt wird, nicht die Migranten, nicht die Flüchtlinge." Viele dieser Traditionalisten wählen die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD). Und auch ihre Zahl steigt. Lengfeld spricht von einer Polarisierung. Es geht also ein Riss durch Deutschland: Zwischen Kosmopoliten und Traditionalisten, Stadt und Land, Gebildeten und Abgehängten.

"Wir haben es mit einem Backlash zu tun", sagt die Grüne Claudia Roth. "Wenn ich mir anschaue, dass wir nur noch 30 Prozent Frauenanteil im Deutschen Bundestag haben, dann ist das ein Rückschritt. Vielleicht auch als Antwort auf die Veränderungen der letzten Jahrzehnte." Die Grünen seien deshalb "noch lange nicht am Ziel", so Roth.

Deutschland 2020: Die große Koalition ist geplatzt. Es gibt Neuwahlen, die Grünen landen vor der CDU, mit der sie eine Koalition bilden. Im Kanzleramt sitzt Robert Habeck, regiert und isst vegane Wurst. Ein Szenario, das noch vor wenigen Wochen weit hergeholt schien. Das mittlerweile aber denkbar ist.

Merkels Regierung: Kurz vor dem Bruch?

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