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Gesellschaft

Die Corona-Grenzregion am Bodensee

Madelaine Pitt
21. März 2021

Konstanz und Kreuzlingen sind nur einen Katzensprung voneinander entfernt, liegen aber auf unterschiedlichen Seiten der deutsch-schweizerischen Grenze. Strenge Corona-Regelungen bestimmen hier den Alltag.

Deutschland Landesgrenze am Bodensee
Der Bodensee ist einer der größten Seen Westeuropas und grenzt an Deutschland, Österreich und die SchweizBild: Madelaine Pitt/DW

Mitte März 2020 wurde ein Paar fotografiert, das durch einen Drahtzaun hindurch über eine internationale Grenze hinweg Händchen hielt. Der Zaun verlief über eine Länge von zwei Kilometern zwischen dem Bodensee und dem Rhein und trennte die Bewohner der malerischen süddeutschen Stadt Konstanz von ihren Nachbarn im schweizerischen Kreuzlingen. Die Grenze, die man sonst vor allem an absurden Roaming-Gebühren bemerkte, war zurück. Tage später wurde ein zweiter Zaun errichtet, anderthalb Meter vom ersten entfernt, um einen Corona-konformen Abstand zwischen den Bewohnern auf beiden Seiten zu gewährleisten.    

Gruia Badescu, ein Forscher, der in Konstanz lebt, fotografierte das Paar an der Grenze und dokumentierte die Szenen weiter in einem Fotoessay für das Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel. Was er nicht wusste: Badescu würde in den Sommermonaten 2020 jemanden in der Schweiz kennenlernen, nachdem der Zaun abgebaut und die Grenze wieder geöffnet worden war. Obwohl die Schweiz nicht Mitglied der Europäischen Union ist, gehört sie seit 2008 zum Schengen-Raum, und normalerweise herrscht zwischen Konstanz und Kreuzlingen Bewegungsfreiheit. 

Bewohner des Grenzgebiets treffen sich am Zaun im März 2020, um Familie, Freunde und Lebenspartner sehen zu könnenBild: Gruia Badescu

Ausnahmen von der Regel

Steigende Corona-Fälle im Herbst 2020 führten dazu, dass zwar Quarantäne-Regeln für Grenzübertritte verhängt wurden - aber die Grenze blieb offen. Die nun geltenden Quarantäne-Bestimmungen sehen Ausnahmen für den Besuch von Verwandten ersten Grades - Eltern und Kinder - und Lebenspartnern vor. Badescu gehört somit zu dem Personenkreis, der weiter in die Schweiz fahren darf.

Marion Hörmann-Brumm, die in Kreuzlingen lebt, fährt jede Woche zu ihrer 73-jährigen Mutter nach Konstanz, um sie im Haushalt und beim Einkaufen zu unterstützen. Hörmann-Brumm erinnert sich, dass die Grenzschließung vor einem Jahr für sie und ihre Familie "ganz schlimm" war.  "Ich wollte, dass meine Mutter an die Grenze kommt, damit wir uns wenigstens sehen können, aber sie wollte den Zaun nicht sehen, das wollte sie sich nicht antun." Hörmann-Brumm ist froh über die aktuelle Regelung, die es ihr erlaubt, den "Mutter-Tochter-Mittwoch" fortzusetzen, während Tourismus, Einkaufsfahrten und Besuche bei Freunden eingeschränkt bleiben. 

Marion Hörmann-Brumm ist erleichtert, dass sie ihre Mutter in Kreuzlingen ohne Quarantäne-Pflicht besuchen darfBild: Marion Hörmann-Brumm

Zwei Systeme, ein Lebensraum

Konstanz und Kreuzlingen sind nicht nur durch persönliche Beziehungen, sondern auch durch wirtschaftliche Faktoren verbunden. Da Lebenshaltungskosten - inklusive Lebensmittelpreise - in Deutschland niedriger sind als in der Schweiz, sind samstags in normalen Zeiten viele Nummernschilder aus dem Thurgau und sogar aus Zürich auf den Parkplätzen der Konstanzer Supermärkte zu sehen. Dass Schweizer Kunden an der Grenze eine Mehrwertsteuer-Rückerstattung auf ihre Einkäufe bekommen können, macht Konstanz noch mehr zu einem Magneten für seine Nachbarn.

So liegen die Nachbarstädte "in zwei verschiedenen politischen Systemen, aber wir sind ein Lebensraum", stellt der Kreuzlinger Stadtpräsident Thomas Niederberger fest. "Die abrupte Grenzschließung im ersten Lockdown war extrem einschneidend für uns, die Region hat sehr gelitten. Wir waren froh, dass in Bern und Berlin Lehren gezogen wurden und diesmal nach Alternativen gesucht wurde."

Konstanz: Wenige Menschen sitzen im März 2020 auf den Bänken am Ufer des BodenseesBild: picture-alliance/dpa/F. Kästle

Die höheren Gehälter in der Schweiz ziehen Pendlerströme aus den umliegenden Ländern an. Im Jahr 2019 fuhren rund 21.000 Menschen aus Deutschland täglich zur Arbeit in die Schweiz. Fast die Hälfte davon wohnt laut der öffentlichen Statistik-Plattform "Bodenseeregion" im Landkreis Konstanz. An dieser Grenze waren die Pendler während der gesamten Pandemie von Quarantäne-Bestimmungen und Bewegungseinschränkungen befreit. 

Einen neuen Zaun will niemand

Ein gewisses Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Corona-Regelungen ergab sich allerdings, da Deutschland durchweg strengere Regeln aufgestellt hat als der südliche Nachbar. Zum Friseur gehen, sich mit Freunden im Park treffen oder einen Glühwein an einem Stand im Freien kaufen - alles Aktivitäten, die zu unterschiedlichen Zeiten in Kreuzlingen erlaubt waren, in Konstanz aber nicht. 

Einige deutsche Einwohner gehen regelmäßig über die Grenze, um die größere Freiheit auf Schweizer Seite auszunutzen. Der Kreuzlinger Stadtpräsident Thomas Niederberger sieht das jedoch nicht als Problem, "solange sich die Leute an unsere Regeln halten. Die einzige Alternative wäre, wieder einen Zaun an der Grenze aufzustellen - und das wollen wir nicht."

Jogging am Bodensee. Im Hintergrund ist Konstanz im Dunst zu sehenBild: Felix Kästle/dpa/picture alliance

Am 1. März 2021 durften alle Läden in der Schweiz wieder öffnen, während sie in Deutschland weiter geschlossen blieben. Wenn deutsche Einwohner jetzt in Kreuzlingen einkaufen gehen wollten, müssten sie sich allerdings in Quarantäne begeben. Auch Restaurants und Bars, die in Kreuzlingen wahrscheinlich früher öffnen werden als in Konstanz, müssten bis zur Aufhebung der Quarantäne-Bestimmungen auf ihre in Deutschland ansässigen Kunden verzichten. Die Regeln schaffen eine eigene Art von Grenze.

Weiter hohe Infektionsraten

Peter Günter ist seit 35 Jahren Besitzer und Geschäftsführer des "Seegarten", einem Restaurant mit Blick auf den Hafen in Kreuzlingen. Die Corona-Krise sei die schwierigste Zeit, die er je erlebt habe, auch weil sein Geschäft von einer offenen Grenze abhängig ist. "Normalerweise machen die deutschen Kunden am Wochenende die Hälfte aller Gäste aus", erklärt der Gastwirt. Selbst wenn er wieder öffnen sollte, würde das Restaurant weiterhin zu kämpfen haben, solange die Quarantäne-Bestimmungen in Kraft sind. 

Vor der Corona-Pandemie: Caféterasse in Konstanz im Juli 2018Bild: DW/D. Dedovic

Bewohner der Grenzregion auf beiden Seiten können zwischen fünf Uhr morgens und 20 Uhr abends das andere Land betreten, um Sport zu treiben, solange sie die jeweiligen Regeln für Versammlungen im Freien respektieren. Aber Freunde aus der anderen Stadt dürfen sie nicht treffen. Zusammen mit der Ausnahmeregelung für besuchende Partner*innen und enge Familienangehörige hält der Kreuzlinger Stadtpräsident diesen Kompromiss für die beste Lösung angesichts der hohen Infektionsraten von COVID-19.

Die Unternehmen in der Grenzregion sind faktisch von zwei verschiedenen nationalen Regelungen abhängig und damit in diesen schwierigen Zeiten mit einer zusätzlichen Unsicherheit konfrontiert. Für die Bewohner vor Ort wird die Pandemie erst dann wirklich vorbei sein, wenn auf beiden Seiten der Grenze wieder Normalität einkehrt.