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Politik

Übergriffe auf Geflüchtete in der Ägäis

Birgitta Schülke | Julia Bayer
29. Juni 2020

Zerstören Einsatzkräfte der griechischen Küstenwache auf hoher See bewusst Boote von Flüchtlingen und Migranten, um sie vor den griechischen Inseln Lesbos und Samos zurück in die Türkei zu drängen? Eine DW-Recherche.

Investigativgeschichte | illegale Pushbacks in der Ägäis
Bild: AegeanBoatReport

"Mama, Mama, wir sterben", schreit ein Kind panisch, während sich maskierte Männer an dem kleinen Boot der Geflüchteten zu schaffen machen - mitten auf dem Meer.So zu sehen in einem Video, das der Flüchtlingsnotruf 'AlarmPhone' am 4. Juni auf Twitter veröffentlichte. Tatort: die Meerenge zwischen der Türkei und Griechenland – die laut EU-Grenzschutzagentur Frontex momentan aktivste Fluchtroute in die EU.

"Die Angriffe sind komplett illegal!"

'AlarmPhone' betreibt eine Hotline für Menschen in Seenot, leitet Notrufe an die zuständigen Küstenwachen weiter und versucht bei den Behörden Druck aufzubauen, damit die Geflüchteten schnell gerettet werden.

Mutmaßlicher Pushback der griechischen Küstenwache am 4. Juni 2020

01:05

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Am 4. Juni hat Lorenz Dienst. Die Menschen auf dem Boot seien extrem verstört gewesen, erinnert sich der Freiwillige aus der Schweiz. Die maskierten Männer hätten den Motor zerstört und das Boot dann manövrierunfähig seinem Schicksal überlassen. Das alles sei nach den vorliegenden Koordinaten in griechischen Gewässern passiert, sagt er: "Die Angriffe sind nach allen rechtlichen Standards komplett illegal und zeigen deutlich, mit welcher unglaublichen Gewalt momentan an der griechischen Grenze gegen Flüchtlinge vorgegangen wird."

Immer häufiger hören die Mitarbeiter von 'AlarmPhone' jetzt von solchen Übergriffen. Am Morgen des 5. Juni gerät schon wieder ein Boot mit 19 Geflüchteten in Not. An Bord ist der 16-jährige Afghane Farhad (Name von der Redaktion geändert). Bei der Flucht in die Türkei hat er seine Mutter und seine Schwester verloren, berichtet er uns. Jetzt versucht er alleine nach Europa zu kommen. Um die Schlepper zu bezahlen, hat er vier Monate in einer türkischen Fabrik gearbeitet.

Ein Schlauchboot, erzählt er, habe sich von griechischer Seite genähert und ihr Boot gestoppt: "Es waren fünf Maskierte. Einer stand am Steuer, zwei haben mit Stangen nach uns geschlagen, einer hat mit einem Messer auf unser Boot eingestochen und den Motor zerstört. Der fünfte schaute nur." Den Angriff selber zu filmen traut er sich nicht, doch danach dokumentiert er die Situation mit seinem Handy.

Farhad möchte nicht erkannt werdenBild: Farhad

Farhad: Die Maskierten waren "griechische Einsatzkräfte"

Die DW hat seine Videos analysiert und verifiziert. Zu sehen sind das Loch im Boot, ein zerstörter Motor und verzweifelte Menschen, die schließlich ins Wasser springen, um das Boot schwimmend in Richtung Lesbos zu schieben. Eine Frau ballt ihre Faust und schreit: "Sie haben ihre Freunde geschickt, um unser Boot kaputtzumachen - jetzt beobachten sie uns."

Im Video ist deutlich ein Boot der griechischen Küstenwache zu sehen, daneben ein kleines Schlauchboot. Farhad malt uns eine Skizze. Er ist sich ganz sicher: Die Maskierten waren griechische Einsatzkräfte, schließlich seien sie von dem großen Schiff der Küstenwache gekommen und hätten die ganze Zeit mit dem Mutterschiff kommuniziert.

Farhad hat der DW diese Fotos mit Erklärung geschickt

Doch das zu beweisen, ist schwierig. Es gibt kaum Bilder der Angriffe, die Maskierten tragen keine Uniform, ihre Boote sind nicht gekennzeichnet. Deswegen ist das Video vom 4. Juni so wichtig.

Durch eine aufwändige Analyse der Boots-Aufbauten konnten die Investigativ-Plattformen Bellingcat und Lighthouse Reports das Schlauchboot der maskierten Männer eindeutig einem Schiff der griechischen Küstenwache zuordnen: Es gehört zum griechischen Küstenwachschiff ΛΣ 080, das an diesem Tag nachweislich vor Lesbos im Einsatz war.

Griechenland weist Vorwürfe zurück

Griechenland allerdings streitet weiter ab, mit illegalen Methoden gegen Bootsflüchtlinge vorzugehen. Man sehe sich inmitten der Corona-Pandemie mit "massiven" und "organisierten Migrationsströmen" aus der Türkei konfrontiert, teilte die Küstenwache des Landes der DW auf Nachfrage mit. Doch alle Veröffentlichungen über mutmaßliche illegale Aktivitäten der griechischen Küstenwache stünden im Zusammenhang mit "gefälschten Nachrichten" und "beabsichtigten Fehlinformationen gegen unsere Institution". Man schütze die europäische Seegrenze in Übereinstimmung mit dem nationalen und internationalen Recht.

Wer sind die maskierten Männer?Bild: Bellingcat/Lighthouse

Sehr allgemein blieb eine konkrete Nachfrage zu den Geschehnissen am 4. Juni bei der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, die in der Ägäis eng mit der griechischen Küstenwache zusammenarbeitet. Das Frontex-Hauptquartier in Warschau erklärt gegenüber der DW: "Frontex hat sich voll und ganz verpflichtet, die höchsten Standards der Grenzkontrolle im Rahmen unserer Operationen aufrechtzuerhalten, und das Zurückstoßen von Flüchtlingen ("pushbacks", Anmerkung der Redaktion) ist nach dem Völkerrecht illegal."

Doch Videodokumente und Zeugenaussagen, die die DW über Wochen gesammelt hat, legen nahe, dass die Übergriffe und Pushbacks längst keine Einzelfälle mehr sind, sondern sich verdichten - zu einem brutalen Muster der Abschreckung, das sowohl gegen nationales als auch internationales Recht verstößt.

UNHCR fordert eine Untersuchung

Auch das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) ist besorgt. Man habe seit März mehrere Dutzend Fälle dokumentiert, bestätigt der UNHCR-Sprecher in Griechenland, Boris Cheshirkov der DW. Der UNHCR hat die griechische Regierung deshalb aufgefordert, die Vorfälle zu untersuchen. "Griechenland hat das Recht, seine Grenzen zu schützen und die irreguläre Migration zu steuern“, heißt es in einer Erklärung. Das Land habe aber "gleichzeitig die internationalen Menschenrechts- und Flüchtlingsschutzstandards zu respektieren."

Das Boot, in dem Farhad am 5. Juni sitzt, treibt auch Stunden nach dem Notruf noch im Wasser und verliert immer mehr Luft. Statt zu helfen, seien griechische Patrouillenboote nahe an ihnen vorbeigefahren, um ihr manövrierunfähiges Boot mit den Wellen in die Hoheitsgewässer der Türkei zu drücken, berichtet uns Farhad. Irgendwann hätten sie entkräftet aufgehört zu paddeln. Als die türkische Küstenwache sie schließlich aufgreift, hat das Boot hinten schon fast keine Luft mehr. Zurück in der Türkei ist der 16-jährige verstört, frustriert und verzweifelt. Es ist bereits sein fünfter gescheiterter Fluchtversuch.

Diese Aufnahme zeigt das zerstörte Boot und stammt vom Kommando der türkischen KüstenwacheBild: Turkish Coast Guard Command

"Es gibt keine gute Seite hier"

Die türkische Küstenwache veröffentlicht regelmäßig Fotos von den 'Rettungen’. Doch alle Beobachter in der Region machen klar: Nicht nur Griechenland verstößt offenbar gegen geltendes Recht. Nur zu oft würde auch die türkische Seite lange zuschauen und lieber mutmaßliche Verfehlungen der Griechen filmen als Geflüchtete in Seenot zeitnah zu retten. "Es gibt keine gute Seite hier, denn beide Seiten spielen ein Spiel auf dem Rücken von verletzlichen Menschen. Und es scheint, als ob Griechenland dafür von der EU grünes Licht bekommen hat", sagt Tommy Olsen, der Gründer der Plattform 'AegeanBoatReport'. Seit 2017 dokumentiert Olsen die Fluchtbewegung in der Ägais akribisch.

Manchmal geraten die Geflüchteten direkt zwischen die Fronten. So wie am 22. Juni, als ein Boot mit 35 Männern, Frauen und Kindern aus griechischen zurück in Richtung türkische Gewässer gezogen wird. Ein Geflüchteter filmt die Szene. Im Video sieht man wieder ein Schlauchboot mit schwarz gekleideten Männern - dahinter deutlich erkennbar ein Schiff der griechischen Küstenwache. Was dann passiert, ist schwer nachzuvollziehen.

Die Geflüchteten auf dem Boot berichten, dass plötzlich ein türkisches Patrouillenboot auf das Schiff der Griechen zugerast sei, dann seien Schüsse gefallen. Auf dem Flüchtlingsboot bricht Panik aus. Beim Analysieren der Videos sehen wir plötzlich ein bekanntes Gesicht: den 16-jährigen Farhad, zu dem wir wenige Tage nach seiner gescheiterten Flucht vom 4. Juni den Kontakt verloren hatten.

Im Video spricht er mit der europäischen Notrufnummer 112: "Bleiben sie ruhig, die Küstenwache kennt ihre Position, warten sie", sagt eine weibliche Stimme auf Englisch mit griechischem Akzent: "Aber die griechische Küstenwache ist doch ganz nah und beobacht uns", ruft Farhad immer wieder frustriert ins Telefon. "Wann kommen sie endlich, um uns zu retten?" Die Antwort, die er bekommt, ist kurz: "So bald wie möglich, ok?" Dann legt die Frau auf.

Mitarbeit: Esther Felden und Amanullah Jawad

Türkei: Tausende Flüchtlinge sind Spielball der Politik

04:38

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