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Politik

Griechenland: Der Holocaust als Tabu-Thema

Florian Schmitz Thessaloniki
19. März 2018

Vor 75 Jahren begann die Deportation der Juden aus Thessaloniki nach Auschwitz. Lange wurde darüber geschwiegen. Das liegt auch am weit verbreiteten Antisemitismus in Griechenland, berichtet Florian Schmitz.

Gedenken an die griechischen Opfer des Holocaust
Einer der wenigen Holocaust-Überlebenden aus Thessaloniki beim Gedenkmarsch Bild: DW/F. Schmitz

Thessaloniki kämpft gegen das Vergessen

01:39

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Auf dem Campus der Universität Thessaloniki ist ein Mahnmal für die griechischen Opfer des Holocaust. Errichtet wurde es 2014 - sehr spät für eine Stadt, die einst das "Jerusalem des Balkans" genannt wurde. "In Thessaloniki gibt es immer noch Menschen, die nicht wissen, dass der Campus früher ein Teil des jüdischen Friedhofs war", beklagt die Filmemacherin Lydia Konsta.

Zerstört wurde der Friedhof während der Besatzung durch Hitlers Wehrmacht. In Kooperation mit einer Stadtverwaltung, die auch eigene Ziele verfolgte: 1917 waren große Teile Thessalonikis durch einen Brand zerstört worden. Mit den Grabsteinen sollten die noch ausstehenden Reparaturen bewältigt werden. So verschwand einer der weltweit größten jüdischen Friedhöfe in den Straßen, Bürgersteigen und Kirchen der Stadt. 

Auch heute stolpert man in der Umgebung der Universität von Thessaloniki über jüdische Grabsteine Bild: DW/F. Schmitz

Ausgelöscht und vergessen 

Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein war die Hälfte der Bevölkerung Thessalonikis jüdisch. Die meisten der zahlreichen Synagogen und jüdischen Geschäfte sind dem Brand von 1917 zum Opfer gefallen. Bereits im 7. Jahrhundert waren Juden nach Thessaloniki gekommen. In der Etz-Achaim-Synagoge, die ebenfalls im Feuer zerstört wurde, predigte der Apostel Paulus auf seiner zweiten Missionsreise. Im 15. Jahrhundert siedelten sich sephardische Juden an, die aus Spanien vertrieben wurden und das kulturelle Leben der Stadt über Jahrhunderte prägten.

Von all dem erfuhr Lydia Konsta erst Ende der 80er Jahre. Weder im Schulunterricht, noch im Stadtbild wurde an das jüdische Erbe von Thessaloniki erinnert. Und auch das Schicksal der jüdischen Mitbürger wurde verdrängt. "Nach dem Leid der Besatzung wollte man einfach alles vergessen, was mit dem Krieg zu tun hatte", vermutet Lydia Konsta.

Seit sich Lydia Konsta mit dem jüdischen Erbe Thessalonikis auseinandersetzt, sieht sie ihre Stadt mit anderen Augen Bild: DW/F. Schmitz

Allerdings hätten viele Kollaborateure an der Vernichtung der griechischen Juden profitiert, gibt die Historikerin Rena Molho zu bedenken, die über den Holocaust und die griechischen Juden forscht. Wertvolle Immobilien wechselten nach dem Krieg den Besitzer.

97 Prozent der Juden aus Thessaloniki überlebten den Holocaust nicht. Dann brach das Schweigen herein über eine Stadt, in der auch heute kaum darüber gesprochen wird, wer die deutschen Besatzer bei der Vertreibung und Vernichtung der Juden unterstützte.

Holocaust muss noch aufgearbeitet werden

Das veränderte sich erst durch Giannis Boutaris, den amtierenden Bürgermeister von Thessaloniki. Er ging auf die knapp 1000 Mitglieder der jüdischen Gemeinde zu, die heute in der Stadt leben. Seit 2013 veranstalten Stadt und Gemeinde einen Gedenkmarsch, um an die Deportation der Juden aus Thessaloniki zu erinnern. Ein Holocaust-Museum wird gebaut, zur Hälfte finanziert von der Bundesrepublik, um zukünftige Generationen über Aspekte der Geschichte aufzuklären, die bisher im Gedenken an die Schrecken des Nazi-Terrors wenig Beachtung fanden.   

"Bis heute denken viele Griechen: Was geht mich der Holocaust an? Das ist doch ein Problem der Juden", sagt Rena Molho. "Dabei ist es ganz einfach: Der Holocaust ist ein Unrecht - das größte Unrecht. Wer dies nicht anerkennt, wird auch andere Fälle von Unrecht nicht so ernst nehmen."

Das Mahnmal auf dem Gelände der Universität in Thessaloniki wurde erst 2014 errichtet Bild: DW/F. Schmitz

Die vielen Opferverbände in Griechenland verwenden den Begriff "Holocaust" im Zusammenhang mit den grausamen Massakern der deutschen Wehrmacht, bei denen auch Menschen getötet wurden, die nicht Juden waren. "Die Juden tötete man aus dem einfachen Grund, dass sie geboren waren. Die meisten Anderen wurden aus rein politischen Gründen umgebracht", sagt die Historikerin Rena Molho. "Viele haben das einfach nicht verstanden. Und viele wollen es bis heute nicht verstehen. Für mich ist genau das Antisemitismus."

Diese Form von Antisemitismus kommt manchmal auch offen zum Ausdruck: "Die Deutschen haben 360 Menschen in meinem Dorf umgebracht", sagt ein pensionierter Lehrer aus Kreta im Gespräch mit der DW, "doch mit den Juden hatte Hitler recht. Die haben doch heute noch die Macht in der Welt und sie respektieren das Christuskreuz nicht." Ein 41-jähriger Tierpfleger aus dem nordgriechischen Serres meint dazu: "Warum soll man sich heute mit solchen Dummheiten wie dem Holocaust auseinandersetzen? Die junge Generation hat doch ohnehin nichts gegen die Juden."   

Antisemitismus als strukturelles Problem

Genau das scheint fraglich. Laut einer weltweiten Umfrage der Anti-Defamation League aus dem Jahr 2014 ist der Antisemitismus in keinem anderen europäischen Land so präsent wie in Griechenland. 74 Prozent der Befragten glauben demnach, Juden hätten "zu viel Kontrolle auf der Welt". Mit 47 Prozent gab fast die Hälfte an, die Juden seien "verhasst aufgrund ihres eigenen Verhaltens". An der Altersstruktur der Befragten fällt auf, dass die Jüngeren generell nicht weniger antisemitisch eingestellt sind als die Älteren.

Verschwörungstheorien über Juden würden auch von Teilen der griechisch-orthodoxen Kirche gefördert, kritisiert Rena Molho: "Es gibt Metropoliten wie Seraphim aus Piräus, die sich antisemitisch äußern und weder abgesetzt werden noch zurücktreten. Das zeigt, welche Haltung die Kirche zu diesem Thema hat." 2010 hatte Seraphim im Fernsehen erklärt, die Juden würden die internationalen Banken kontrollieren. 

Seit 2013 findet jedes Jahr im März ein Gedenkmarsch für die griechischen Opfer des Holocaust statt Bild: DW/F. Schmitz

Doch längst nicht alle Griechen seien Antisemiten, betont die Historikerin Molho: Gerade während der Besatzung hätte es in der griechischen Zivilbevölkerung auch viel Hilfe für die Juden gegeben. Dass die griechisch-orthodoxe Kirche heutzutage antisemitische Aussagen von hohen Würdenträgern schlichtweg ignoriere, weise aber auf ein "systematisches Grundproblem".

Bei allen Problemen beobachtet Molho aber auch, dass sich etwas bewegt - vor allem durch private Initiativen. Gerade für die kommenden Generationen hat sie Hoffnung: "Die Kinder hören dir zu und sie schenken dir Glauben." Und auch für Lydia Konsta steht fest: "Thessaloniki darf nicht länger im Dunklen tappen. Wir müssen uns endlich damit auseinandersetzen, wer wir eigentlich sind. Die Stadt, so wie sie heute existiert, hat eine lange und kulturell vielseitige Geschichte." Dabei laste die Leugnung der jüdischen Vergangenheit schwer auf Thessaloniki: "Wer nicht anerkennt, dass die Hälfte der Bevölkerung dieser Stadt jüdisch war, der wird nie verstehen, dass sie auch deswegen griechisch ist."

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