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Griechenland gedenkt des Zugunglücks von Tempi

Kaki Bali (aus Athen)
26. Februar 2025

Zwei Jahre nach dem Zusammenstoß zweier Züge, bei dem 57 Menschen ums Leben kamen, wurde die Unfallursache immer noch nicht aufgeklärt. Mit einem Generalstreik und Demonstrationen erinnern die Griechen an das Unglück.

Junge Männer und Frauen demonstrieren mit Transparenten und Plakaten, die mit griechischen Buchstaben beschriftet sind
Proteste gegen die schleppende Aufklärung des Zugunglücks von Tempi im Januar 2025Bild: Costas Baltas/Anadolu/picture alliance

An diesem Freitag (28. Februar 2025) wird in Griechenland gestreikt und demonstriert. Die Gewerkschaften des öffentlichen und privaten Sektors legen die Arbeit nieder, die Schiffe bleiben in den Häfen, die Flugzeuge am Boden, die Züge in den Bahnhöfen. In vielen Städten des Landes bleiben die Geschäfte für ein paar Stunden geschlossen, sogar Maniküreläden und Friseursalons. Auch die Nachtclubs bleiben zu und sogar der größte Schlagerstar des Landes, Anna Vissi, wird an diesem Freitagabend nicht singen. Außerdem wird in fast jeder Stadt und in jedem Dorf in Griechenland demonstriert. Auf X und anderen sozialen Netzwerken wird zu den Demonstrationen aufgerufen.

Selbst die Auslandsgriechen schließen sich den Protesten an. Sie organisieren Erinnerungskundgebungen in vielen europäischen und amerikanischen Städten, in Sydney, sogar in Sansibar, in Buenos Aires und in Akureyri in Island. Mit einer Forderung: Gerechtigkeit für die Opfer des schwersten Eisenbahnunglücks in der Geschichte Griechenlands. 

Es hätten die eigenen Kinder sein können

Das Unglück ereignete sich vor zwei Jahren. Am 28. Februar 2023, kurz vor Mitternacht, kollidierte der InterCity 62, der die Strecke Athen-Thessaloniki bediente, frontal mit einem Güterzug. Es geschah bei Tempi, in der Nähe der mittelgriechischen Stadt Larissa. 57 Menschen starben, darunter mehrere Studentinnen und Studenten, die diesen Zug oft benutzten, viele wurden verletzt. Das Ereignis schockierte die griechische Bevölkerung tief. In diesem Zug hätten die eigenen Kinder, die eigenen Enkelkinder, die eigenen Freunde sitzen können. Die Trauer im Lande war groß, die Fragen, wie es zu dem Unfall gekommen war und ob so etwas nochmal passieren könnte, quälend.

Ilias Papaggelis zeigt das Foto seiner Tochter Anastasia, die bei dem Zugunglück ums Leben kamBild: Maria Rigoutsou/DW

Zwei Jahre danach warten die Angehörigen der Opfer und die griechische Öffentlichkeit immer noch auf Antworten. Wie war die Kollision möglich? Wieso war die Explosion so heftig? Hatte der Güterzug etwa eine illegale gefährliche Ladung transportiert? Und wer trägt die Schuld an dem Unglück?

Die Menschen sehnen sich nach Aufklärung und Gerechtigkeit. Doch 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung sind überzeugt, dass die Regierung versucht, alles zu vertuschen: Ihre Nachlässigkeit, das defekte Signal aus dem Jahr 2019 zu reparieren, die Investitionsverzögerungen in der Sicherheitstechnik, die mit EU-Geldern finanziert wurde, die Einstellung eines 60-jährigen unqualifizierten Anhängers der Regierungspartei als Bahnhofsvorsteher von Larissa.

Mangelnde Aufklärung und Vertuschung

Die Regierung weist den Vorwurf der Vertuschung kategorisch zurück. Aber sie überzeugt damit nicht, denn dieser Unfall wird höchstwahrscheinlich nie aufgeklärt werden: Die zuständigen Behörden haben sich direkt danach nicht darum gekümmert, die Aufnahmen der Überwachungskameras sicherzustellen oder die notwendigen Autopsien durchzuführen. Außerdem wurden unmittelbar nach dem Zusammenstoß etwa 300 Kubikmeter Erdreich sofort entfernt und der Bereich mit Kies aufgefüllt. Damit kann nicht mehr nachgewiesen werden, ob der Güterzug, der mit dem Personenzug zusammengestoßen war, illegales, entflammbares Material geladen hatte, das die Explosion möglicherweise verursachte. 

Die entgleisten Waggons des Personenzugs an der Unfallstelle in TempiBild: AFP

Einer der zuständigen politischen Akteure, der damalige Verkehrsminister Kostas Achilleos Karamanlis, ein Mitglied der gleichnamigen konservativen griechischen Politdynastie, war zwar am Tag nach dem Unglück zurückgetreten - durfte jedoch zwei Monate später schon wieder erneut für das Parlament kandidieren. Bei den Parlamentswahlen im Juni 2023 hatte die konservative Regierungspartei Nea Dimokratia mit Bravour gewonnen und Karamanlis wurde von seinen Parteikollegen mit Standing Ovations im Parlament begrüßt. Für die Regierung war die Tragödie von Tempi vergessen.

"Wir vergessen nicht, wir vergeben nicht”

Doch am 26. Januar 2025 forderten Hunderttausende in Athen, Thessaloniki und 100 anderen Städten des Landes bei Demonstrationen Gerechtigkeit für die Opfer des Unglücks. Anlass für die Proteste war die Veröffentlichung von Tonaufnahmen, die belegten, dass etwa 30 der 57 Todesopfer nach dem Zusammenstoß noch eine Zeit lang gelebt hatten und möglicherweise hätten gerettet werden können. Zu den Protesten hatten die Angehörigen der Opfer über die sozialen Medien aufgerufen, und die spontane Reaktion der Bürgerinnen und Bürger war beeindruckend: Es kam zu den größten Demonstrationen in Griechenland seit mehr als zehn Jahren. Die Teilnehmer skandierten Parolen wie "Wir vergessen nicht, wir vergeben nicht" und "Gerechtigkeit! Nein zur Vertuschung". 

Massendemonstrationen in Athen im Januar 2025 fordern Aufklärung des Zugunglücks und Gerechtigkeit für die OpferBild: Maria Rigoutsou/DW

Die Demonstrationen waren so massiv, dass Premierminister Kyriakos Mitsotakis sich gezwungen sah, am 30. Januar ein Interview zu geben und seine frühere Haltung - "es war menschliches Versagen" - zu revidieren. Mit ungewöhnlich bescheidener Miene gab er zu, dass Wahrheitsfindung und Gerechtigkeit "langsam" voranschreiten und versprach Besserung. Er beschrieb das Zugunglück von Tempi als eine "offene Wunde, ein kollektives Trauma und eine kollektive Trauer" und fügte hinzu, er verneige sich, als Premier und als Vater vor Maria Karistianou, der Vorsitzenden der Vereinigung der Angehörigen der Opfer von Tempi, die bei dem Unfall ihre Tochter Marti verloren hatte. 

Karistianou kämpft seit fast zwei Jahren im In- und Ausland für die Aufklärung des Zugunfalls und wird dabei von regierungsnahen Journalisten und Internet-Trollen sowie von einigen Ministern attackiert.  

Angst vor der Empörung der Bürger

Doch die Phase der Besonnenheit dauerte bei Mitsotakis nicht lange an. Getrieben von den schlechten Umfragewerten seiner Partei, der Nea Dimokratia (sie liegt laut Metron Analysis im Moment bei 22 Prozent), entschied er sich wieder für härtere Töne. In einem Interview in der Zeitung Kathimerini wetterte er gegen alle, die kein Vertrauen in die Justiz haben und präsentierte sich als Schutzschild der Judikative. "Manche wollen uns in einen Dschungel führen", sagte Mitsotakis und warf den Oppositionsparteien vor, die Tragödie zu "instrumentalisieren". 

Eine Gedenkstätte am Ort des Zugunglücks erinnert an eine junge Frau, die hier gestorben istBild: Angelos Tzortzinis/AFP

Doch es sind  nicht die Oppositionsparteien, die zu den Protesten am kommenden Freitag aufrufen. Die Menschen folgen dem Ruf der Angehörigen und demonstrieren für Gerechtigkeit und gegen den inakzeptablen Umgang der Regierung mit der Tragödie.

Die wiederum weist die Vorwürfe zurück und rät den Menschen, nicht zu den Kundgebungen zu gehen. In den sozialen Medien macht ein Gegen-Plakat die Runde, auf dem steht der Slogan: "Ich gehe nicht zur Demo, ich vertraue der Justiz".