1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Griechenland und Türkei: Tourismus als Brücke

2. Juli 2022

Weil die Regierung in Ankara griechisches Hoheitsgebiet in Frage stellt, stehen Griechenland und die Türkei vor einem konfliktreichen Sommer. Doch ein Reeder aus dem türkischen Izmir hat ganz andere Pläne.

Türkei Griechenland Tourismus
Touristen aus der Türkei beleben den Lokaltourismus auf Griechenlands drittgrößter Insel LesbosBild: Florian Schmitz/DW

Etwa einhundert Kilometer liegen zwischen der griechischen Insel Lesbos und der türkischen Millionenmetropole Izmir. Die Stadt liegt an einer ausgedehnten Bucht, die sich bis in das offene Meer der Nordost-Ägäis zieht. Nur wenige Kilometer vor der türkischen Küste verläuft eine unsichtbare Linie mitten durch das Meer: Die europäische Außengrenze. Dort endet die Türkei - und Griechenland beginnt.

Das war nicht immer so. Die heutigen Grenzen basieren auf dem Vertrag von Lausanne von 1923. Über Jahrhunderte war Izmir, das auf Griechisch Smyrni heißt, ein Zentrum griechischer Kultur. Ebenso lebten zu Zeiten des Byzantinischen und des darauffolgenden Osmanischen Reichs viele Türken auf den heutigen griechischen Inseln und auf dem Festland. Der Zerfall des Osmanischen Reichs am Ende des Ersten Weltkriegs beendete das multiethnische Zusammenleben. Im heutigen Izmir wurden zehntausende Griechen von der türkischen Armee ermordet und die Stadt in Schutt und Asche gelegt.

Der Vertrag von Lausanne verpflichtete zu einem Bevölkerungsaustausch: Etwa eine halbe Million Türken, die bisher in Griechenland gelebt hatten, mussten in den neu gegründeten türkischen Staat umsiedeln; und über eine Million Griechen mussten ihre Heimat auf türkischem Staatsgebiet verlassen und nach Griechenland gehen. Ein Trauma, das heute in Griechenland als "kleinasiatische Katastrophe" bezeichnet wird - und auch einhundert Jahre später immer wieder für Streit sorgt.

Vor allem der aktuelle Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, weiß genau, wie er die Gemüter auf der europäischen Seite erhitzen kann. Immer wieder dringen aus der türkischen Hauptstadt Ankara Stellungnahmen, die den Vertrag von Lausanne anzweifeln - und damit auch die Außengrenze der EU. Erdogans Fantasien eines türkischen Großreichs machen dabei auch vor Ansprüchen auf einige der größeren griechischen Inseln nicht halt, darunter Samos, Rhodos und Lesbos.

Izmir gegen Erdogan

In Izmir stößt der Präsident dabei auf wenig Unterstützung. Die 4-Millionen-Einwohner-Metropole ist traditionell eine Stadt der Opposition. Den Bürgermeister stellt mit Mustafa Tunc Soyer die Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei, CHP). Gegründet wurde sie 1923 von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Das Parteiprogramm basiert auf einer sozialdemokratisch-laizistischen Philosophie, dem sogenannten Kemalismus.

Die türkische Metropole Izmir ist traditionell eine Stadt der OppositionBild: Florian Schmitz/DW

Von dem aber hält der regierende Präsidenten Erdogan mit seinem religiös-autokratischen Stil nur wenig: "Jeder, der gegen Erdogan ist, wird sofort als 'Gavur' beschimpft," erklärt eine junge Frau in Izmir. "Gavur" bedeutet so viel wie ungläubig. Das ist nur eines der vielen Beispiele dafür, wie Erdogan versucht, den Islam für politische Zwecke auszunutzen. Erkannt werden will die junge Frau nicht. Wer in der Türkei schlecht über den Staatschef redet, kann im Gefängnis landen. Seit Jahren ächzt die Justiz unter zahllosen Verfahren wegen "Präsidentenbeleidigung".

Angst vor der Wirtschaftskrise

Erdogans harte Töne gegen das Nachbarland Griechenland hält die junge Türkin für deplatziert: "Wir haben doch ganz andere Probleme. Zum Beispiel ist hier alles viel zu teuer, wir können uns die Miete nicht mehr leisten", berichtet sie im Gespräch mit der DW. "Selbst die Preise für Obst und Gemüse sind gestiegen. Wenn die Regierung jetzt noch Streit mit Griechenland anfängt, wird vielleicht alles noch schlimmer."

Recep Tayyip Erdogan, seit 2014 Präsident der Türkei, spricht im Juni 2022 vor Soldaten in der Nähe von Izmir Bild: Turkish Presidency via AP/picture alliance

In der Tat liegt die Inflationsrate in der Türkei Ende Juni 2022 bei 73,5 Prozent. Und 2023 stehen Parlamentswahlen an. Angesichts der verheerenden wirtschaftlichen Situation sehen politische Beobachter im neuen Konflikt Ankaras mit Athen nicht zuletzt auch eine Taktik Erdogans, von innenpolitischen Problemen abzulenken.

Tourismus als Brücke

Stolz und ein wenig nervös wirkt der Reeder Osman Hakan Ersen, den wir am Hafen von Izmir treffen. Es ist halb zehn Uhr morgens. In einer Stunde sticht die Ihsan Alyanak in See, ein Schnellboot, das mit flotten 25 Knoten die drittgrößte türkische Stadt mit Griechenlands drittgrößter Insel Lesbos verbinden wird - zum ersten Mal seit dem Ende des Osmanischen Reichs. Unterstützt wird das Vorhaben auch von Izmirs Bürgermeister Soyer, wie Ersen unterstreicht.

Der türkische Reeder Osman Hakan Ersen betreibt eine neue Fährverbindung ins Nachbarland GriechenlandBild: Florian Schmitz/DW

Gute, nachbarschaftliche Verhältnisse anstelle von politischen Hahnenkämpfen, von denen sich die leeren Kassen der türkischen Geschäftsleute nicht füllen, das würde auch sich Reeder Ersen wünschen: "Wir Türken lieben die griechischen Inseln. Dort sind die Strände nicht so überfüllt wie hier in der Türkei. Das Essen und die Musik sind gleich. Beide Seiten würden wirtschaftlich profitieren." Zwar gebe es bereits eine Fährverbindung vom Hauptort von Lesbos, Mytilini, zur türkischen Küstenstadt Ayvalik, doch ein Boot direkt nach Izmir sei bisher eine Marktlücke.

"Griechen sind herzlich willkommen"

Trotz der derzeitigen wirtschaftlichen Lage hofft Hakan Ersen, dass seine Fähre genügend zahlende Passagiere finden wird. Ein gutes Geschäft werde durch die politische Situation zwischen beiden Ländern erschwert: "Die Griechen sind derzeit zögerlich", erklärt der Reeder der DW, "aber das sollten sie nicht sein, denn wir teilen das Meer und sind Nachbarn. Sie sind herzlich willkommen." Das Ticket seiner Fähre kostet für die Hin- und Rückfahrt 80 Euro - mit Blick auf die wirtschaftliche Lage in der Türkei viel Geld.

Zum ersten Mal legt die Ihsan Alyanak aus Izmir am Hafen von Lesbos‘ Hauptstadt Mytilini anBild: Florian Schmitz/DW

Zudem benötigen türkische Staatsbürger für den Ausflug nach Griechenland ein Visum für den Schengenraum. Das kostet ebenfalls 80 Euro und erfordert außerdem einiges an Geduld: "Für ein Visum müssen wir Türken unser gesamtes Vermögen offenlegen. Zudem müssen wir angeben, wo wir arbeiten, und Kontoauszüge der letzten drei Monate vorweisen." Vor der Corona-Pandemie habe es Tagesvisa für 30 Euro gegeben, die man direkt an der Grenze kaufen konnte. Für Griechen dagegen ist die Einreise in die Türkei mit einem einfachen Personalausweis möglich.

Wirtschaft vor Politik

Für Hakan Ersen steht fest: Brüssel muss die Visaregeln für türkische Touristen dringend lockern. Auch auf Lesbos hätte man Interesse daran, Bürgerinnen und Bürgern des Nachbarlandes die Einreise zu vereinfachen. Früher sei man stolz darauf gewesen, dass die Insel weniger touristisch war als Rhodos oder Kos. Doch nun, nach Jahren des Umbruchs von der Finanzkrise über das andauernde Flüchtlingsdrama bis zu den durch COVID-19 verursachten Problemen im Land, versucht man sich hier neu zu erfinden.

Der 22-jährige Barmann Nikos hält die Spannungen zwischen Ankara und Athen vor allem für einen MedienkriegBild: Florian Schmitz/DW

"Das mit der Fähre aus Izmir ist eine gute Sache. Alle hier beschweren sich, dass es keine Touristen gibt", erklärt der 22-jährige Barmann Nikos. Viele aus Lesbos führen mit der Fähre nach Ayvalik auf den Bazar. Die derzeitigen Spannungen zwischen den Regierungen in Ankara und Athen fänden vor allem in den Medien statt: "Es kommen jeden Tag Türken zu uns nach Lesbos. Dieses Konfliktgerede hat mit unserem Leben nichts zu tun. Wir haben gute Beziehungen."

Vorteile einer besseren Verkehrsanbindung mit der Türkei sieht auch Kostas Moutzouris, Gouverneur der nordägäischen Inseln. Hier in Lesbos, wo das Nachbarland nur einen Steinwurf entfernt ist, ist auch der politische Ton milder als in Athen: "Die Völker müssen im Dialog stehen. Nur im Dialog lassen sich auch Probleme lösen", sagt er gegenüber der Deutschen Welle.

Die Drohungen aus der Türkei hält Moutzouris für Worthülsen, mit denen der türkische Präsident die Weichen für die im kommenden Jahr anstehenden Parlamentswahlen stellen wolle: "Wir hoffen, dass sich die wirtschaftliche Situation in der Türkei verbessert - denn auch für die Menschen hier in Lesbos ist es von Vorteil, innerhalb von nur knapp drei Stunden an eine Millionenmetropole wie Izmir angebunden zu sein". Gleichzeitig stellt Moutzouris klar: "Wir Griechen haben unsere eigenen, nationalen Interessen. Und was die angeht, werden wir keine Zugeständnisse machen."