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Schuldfrage nach griechischer Schuldenkrise

Jannis Papadimitriou Straßburg
16. März 2023

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Griechenland wegen des Dauerstreits mit seinem ehemaligen Chef-Statistiker Andreas Georgiou verurteilt. Späte Genugtuung für einen ehrlichen Staatsdiener.

Der ehemalige Präsident der Griechischen Statistikbehörde lebt heute in den USA
Andreas Georgiou, ehemaliger Präsident der Griechischen Statistikbehörde, lebt heute in den USABild: ZUMA Wire/imago images

Die griechische Schuldenkrise ist vorbei, aber die Debatte nicht aus der Welt: Wer übernimmt die Verantwortung für die Wirtschaftsmisere Griechenlands in den vergangenen Jahren? Viele glauben, dass die sozialistische Partei PASOK die Hauptverantwortung trägt. Schließlich hat der Parteigründer und langjährige Regierungschef Andreas Papandreou der EU so viel Geld abgetrotzt wie sonst niemand - und einen Großteil davon für Wahlgeschenke ausgegeben.

Andere sehen die Schuld beim einstigen konservativen Hoffnungsträger Kostas Karamanlis. Er hat Griechenland von 2004 bis 2009 regiert und in dieser Zeit das Staatsdefizit fast verdoppelt, um die eigene Wählerklientel zu beglücken.

Und dann gibt es jene, die nicht den Verursacher, sondern den Überbringer schlechter Nachrichten an den Pranger stellen. Für sie liegt die Schuld ausgerechnet bei dem Mann, der die Wahrheit offengelegt und nach Brüssel gemeldet hat.

Ein ehrlicher Staatsdiener

Dieser Mann heißt Andreas Georgiou. Sein Handwerk hat er unter anderem beim Internationalen Währungsfonds (IWF) gelernt. Als Chef der griechischen Statistik-Behörde ELSTAT im Zeitraum 2010-2015 korrigierte Georgiou die Defizitzahlen deutlich nach oben. Damit brach er mit der Tradition der "Greek statistics", der geschönten Haushaltszahlen. Daraufhin wurde er immer wieder als "Nestbeschmutzer" beschimpft. Aus Angst vor juristischer Verfolgung musste der Ökonom seine Heimat verlassen und lebt heute in den USA.

Andreas Georgiou meldete das griechische Staatsdefizit in tatsächlicher Höhe nach Brüssel (Aufnahme von 2010)Bild: Petros Giannakouris/AP Photo/picture alliance

Zum Prozess kam es trotzdem. Von dem Vorwurf falscher Aussagen zum Defizit wurde Georgiou immerhin freigesprochen. Doch im Sommer 2017 bekam er in einem weiteren Gerichtsverfahren eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung - wegen Pflichtverletzung im Amt. Seitdem kämpft Georgiou um seine Reputation.

Etappensieg in Straßburg

Nun errang der einstige Chef-Statistiker einen Etappensieg. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der beim Europarat angesiedelt ist, urteilte, dass Griechenland in Sachen Georgiou die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt hat. Genauer gesagt: Im Athener Strafprozess gegen Georgiou wurde das Recht des Angeklagten auf ein faires gerichtliches Verfahren verletzt (Art. 6 EMRK).

Die Straßburger Richter monieren insbesondere, dass der Oberste Gerichtshof in Athen kein Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), dem höchsten Gericht der EU, einleiten wollte, obwohl Georgiou dies ausdrücklich verlangt hatte. Dadurch habe sich Griechenland der Rechtsverweigerung schuldig gemacht.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in StraßburgBild: Uta Poss/picture alliance

Das Vorabentscheidungsverfahren ist die häufigste Verfahrensart am EuGH. Es soll die Frage klären, ob nationales Recht mit EU-Recht vereinbar ist oder im Einklang mit ihm ausgelegt wird. Dabei legt das nationale Gericht dem EuGH die strittige Frage vor. Die Abfassung der Endentscheidung ist ebenfalls Aufgabe des nationalen Gerichts. Dabei ist die Interpretation der Luxemburger Richter bindend.

Vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof erklärte die Athener Regierung, ein Vorabentscheidungsverfahren käme nur dann in Betracht, wenn das nationale Gericht Zweifel an der EU-konformen Auslegung einer nationalen Rechtsvorschrift hätte. Anscheinend sei das hier nicht der Fall, deshalb sei die Vorlage an den EuGH nicht erforderlich. Die Straßburger Richter folgten diese Argumentation nicht.

Der Chef-Statistiker als Sündenbock

Bereits im Jahr 2017 hatte der EU-Parlamentarier Giorgos Kyrtsos die Strafprozesse gegen Georgiou kritisiert. "Die Entscheidung, Griechenland unter EU-Aufsicht zu stellen, war längst gefallen, bevor Georgiou den Chefsessel bei ELSTAT übernehmen durfte", sagte er damals im DW-Interview. Allein schon deshalb sei der Vorwurf haltlos, Georgiou hätte die Defizitzahlen aufgebauscht und erst dadurch Griechenland in die Krise gestürzt.

Der griechische EU-Abgeordnete Giorgos Kyrtsos im EU-Parlament in StraßburgBild: Jannis Papadimitriou/DW

Heute fühlt sich Kyrtsos in seiner Kritik bestätigt. Georgiou müsse als Sündenbock herhalten, weil er unter Anleitung der zuständigen EU-Stellen versucht habe, die Haushaltsdaten in Ordnung zu bringen, sagt er der DW. Der konservative Politiker legt Wert auf die Feststellung, dass er seit 2014 als Mitglied im Wirtschaftsausschuss des EU-Parlaments alles getan hat, um Georgiou nach Kräften zu unterstützen.

Im Moment kann allerdings auch Kyrtsos nicht viel ausrichten. Nach einem öffentlich ausgetragenen Streit mit Regierungschef Kyriakos Mitsotakis sah er sich gezwungen, die Nea Dimokratia, die konservative Partei Griechenlands und sogar die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) zu verlassen. Heute arbeitet Kyrtsos an seinem Comeback als Mitglied der liberalen Fraktion Renew Europe.

Eine "Ohrfeige" für Verschwörungstheoretiker

Als erster hochrangiger Politiker kommentierte der sozialistische Ex-Minister Evangelos Venizelos das Straßburger Urteil: Es sei eine "Ohrfeige" und nicht zuletzt eine "Lektion" für Verschwörungstheoretiker in Griechenland, die immer noch über angeblich geheime Gründe der Schuldenkrise spekulieren, mahnt der Verfassungsrechtler.

"Genugtuung für Georgiou in Europa" sieht die auflagenstärkste Athener Zeitung Ta Nea. Von einer "Ohrfeige für das griechische Rechtssystem" berichtet das renommierte Blatt Kathimerini. Ansonsten fand das Urteil aus Straßburg bisher wenig Beachtung - zumal zwischenzeitlich die griechischen Journalisten streikten.

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