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Politik

Doppelmoral in Corona-Zeiten

9. Februar 2021

Der griechische Premier Kyriakos Mitsotakis ist bei einem Mittagessen mit 30 Personen gefilmt worden. Er verstieß damit nicht zum ersten Mal gegen die Corona-Regeln.

Griechenland Premierminister Kyriakos Mitsotakis
Griechenlands Ministerpräsident Mitsotakis scheint die Corona-Regeln nicht immer ernst zu nehmenBild: Costas Baltas/REUTERS

Aliki B. paukt für die Aufnahmeprüfung an die Uni. Sie ist 18 Jahre alt, wohnt mit ihren Eltern und ihrem kleineren Bruder in Thessaloniki und lebt seit 101 Tagen im Lockdown. "Ich hab' keinen Bock mehr darauf", sagt sie, "mein Leben ist die Hölle. Nur lernen, lernen, lernen und mit meiner Mutter streiten".

Aliki liebt Drama. Aber vor einer Aufnahmeprüfung ist das Leben in Griechenland tatsächlich stressig und die Pandemie macht alles noch schlimmer. Nur samstags konnte die genervte Schülerin kurz ausgehen, mit ihren Freundinnen auf der Promenade flanieren. Bis 21 Uhr, dann mussten sie, wie alle anderen Bewohner, nach Hause. Sperrstunde per Dekret seit dem 1. November.

Letzten Samstag war auch dieser Hauch von Freiheit zu Ende. Seitdem muss man am Wochenende die Straßen schon ab 18 Uhr verlassen, überall dort, wo die Infektionszahlen hoch sind. Also im Großraum Athen und Thessaloniki, wo fast zwei Drittel der griechischen Bevölkerung leben.

Fiesta in Ikaria

Ausgerechnet an diesem ersten Samstag (06.02.2021) der strengeren Beschränkungen entschied sich Premierminister Kyriakos Mitsotakis für einen Besuch auf Ikaria, einer Insel in der Ägäis, mit einer der niedrigsten Corona-Raten im Land. Mitsotakis wollte selbst begutachten, wie die Impfkampagne dort läuft. Offensichtlich konnte oder wollte er die Einladung des örtlichen Abgeordneten, eines Parteigenossen aus der konservativen Nea Dimokratia, zum Mittagessen nicht ablehnen. Also setzte sich der Premierminister mit seinen Mitarbeitern und der örtlichen Prominenz, mindestens 30 Personen, zu Tisch.

Das war ein klarer Verstoß gegen die von seiner eigenen Regierung festgelegten Corona-Regeln (maximal neun Menschen am Festtisch zu Weihnachten, sonst nur die enge Familie) - und er wurde dabei gefilmt. Jeder normale Bürger Griechenlands würde wegen des Verstoßes zur Kasse gebeten. Nicht so Mitsotakis, der sich nicht einmal entschuldigt hat.

Die Opposition sprach von einer unverschämten "Fiesta in Ikaria" - die Insel ist für ihre Volksfeste ("Panigyria") bekannt. In den sozialen Medien war die Wut groß - und die Häme auch. In den meisten Fernsehsendern waren diese Bilder der gebrochenen Regeln nicht zu sehen - man munkelt, das Büro des Premiers hätte darum gebeten, sie zu ignorieren. Und das nicht zum ersten Mal.

Die Teilnehmer des umstrittenen Mittagessens - darunter Regierungschef MitsotakisBild: Stringer/AFP

"Ein Moment der Nachlässigkeit"

Bereits im Dezember, als Mitsotakis beim Radfahren auf dem Mount Parnitha mit Passanten und ohne Maske fotografiert wurde, hatte es Versuche gegeben, den Verstoß gegen die Regeln zu verheimlichen. Auch damals waren die sozialen Medien voller Wut und Spott. Ein paar Tage danach gab Mitsotakis in einem TV-Interview zu, es sei "ein Moment der Nachlässigkeit" gewesen.

Schon für weniger Nachlässigkeit müssen die Menschen in Griechenland 300 Euro Strafe zahlen - und sich eine strenge Predigt für ihre Unverantwortlichkeit von den regierungsnahen Medien anhören. Dieselben TV-Sender, die am Samstag die Bilder von Ikaria ignorierten, schickten ihre Reporter am sonnigen Sonntag an die Küste Attikas, um Spaziergänger zu filmen und um zu zeigen, dass diese "unverantwortlichen Leute" nicht zu Hause geblieben waren.

Falsche Signale

Vielleicht gibt der Premierminister wieder "einen Moment der Nachlässigkeit” zu. Aber bei der Bevölkerung ist die Botschaft längst angekommen: Die Regeln gelten nicht für alle. Und auch Medien nehmen ihre Kontrollfunktion nicht immer wahr.

Die Demokratie in Griechenland leidet sowieso in der Corona-Zeit. Wie fast überall sind Grundrechte außer Kraft gesetzt worden, um die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Das sehen die meisten Griechen ein. Aber die Verschleierung der Fehltritte von Premier Mitsotakis sendet die falschen Signale aus. Genauso wie die Fiesta von Ikaria: Wenn der Premierminister und seine Gefolgschaft ohne Angst zusammensitzen und essen, dann sei wohl die Gefahr, die vom Corona-Virus ausgehe, doch nicht so groß, glauben viele. Also könne sich jeder ein bisschen Nachlässigkeit leisten.

Zwei Wellen, zwei Reaktionen

Obwohl Disziplin nicht unbedingt als Lieblingstugend der Griechen gilt, waren die Hellenen erstaunlich diszipliniert, als die erste Welle der Pandemie 2020 ausbrach. Die Regierung hatte einen strikten Lockdown rechtzeitig verhängt, wenige Menschen erkrankten, die Todesrate war niedrig. Es war ein großer Erfolg, den die Regierung Mitsotakis feiern konnte. Was folgte, waren erholsame Sommermonate, in denen die Regierung es versäumte, das Gesundheitssystem und die Schulen für eine zweite Corona-Welle vorzubereiten. Wie fast überall in Europa. 

Die zweite Welle war viel heftiger als die erste. Doch der neue Lockdown ist nicht mehr so strikt, weil vor allem die Wirtschaft es sich nicht mehr leisten konnte. Die ohnehin arg strapazierten Reserven nach der langen Finanzkrise waren wieder stärker geschrumpft.

Der Einzelhandel leidet besonders unter dem zweiten Lockdown in GriechenlandBild: Florian Schmitz/DW

Die Performance der Regierung lässt diesmal nach Ansicht politischer Beobachter zu wünschen übrig, viele Menschen sind von der Richtigkeit der immer wieder wechselnden Maßnahmen nicht überzeugt - was übrigens auch keine griechische Besonderheit ist.

Eine griechische Besonderheit aber ist, dass diesmal die Antwort der konservativen Regierung auf jede Frage "mehr Polizei" ist. Kritiker der Maßnahmen handelten einfach sorglos, heißt es. Oder sie seien vom "Populismus" der Opposition "infiziert". Einer Opposition, die so unverantwortlich sei, dass sie es wage, auf die Straße zu gehen - mit Masken und Sicherheitsabständen, versteht sich. Die Proteste richteten sich gegen das Vorhaben der Regierung, mitten in der Pandemie das Universitätswesen zu reformieren und eine Uni-Polizei zu gründen.

Aliki B. hat letzte Woche auch dagegen demonstriert, zusammen mit vielen ihrer Mitschülerinnen. Und am Wochenende hat sie auf Facebook ihrem Ärger Luft gemacht, als sie die Fotos vom Premier in Ikaria sah. Mit 18, sagt sie, sei ihr Gerechtigkeitssinn noch ausgeprägt und ihre Geduld am Ende - diese Doppelmoral könne sie nicht so einfach verzeihen. Viele Griechinnen und Griechen - auch älteren Jahrgangs - sehen das ähnlich.