Erst das Ersparte, dann die Rente vom Opa
11. April 2014Alexandra Tsitoura schließt die Tür zum Büro im Lagergebäude der "Hellenic Shipyards" auf. Auf der vom Schifffahrtsmagnaten Stavros Niarchos gegründeten Werft wurden viel Jahre lang U-Boote gebaut und Containerschiffe repariert. Heute ist das Gelände als Folge von Streitigkeiten zwischen der griechischen Regierung und den Firmeneignern um den Verkauf der Werft verwaist.
Tsitoura sitzt an ihrem Schreibtisch: Darauf stehen Kinderzeichnungen, Muscheln, die ein Kollege ihr geschenkt hat, eine halb leere Dose Kaffee und ein alter Kassettenrekorder. Seit neun Jahren arbeitet die 38-jährige Mutter von drei Kindern hier. "Das hier ist mein Arbeitsplatz, mein Büro", erklärt sie. Vor zwei Jahren habe sie das letzte Mal auf diesem Bürostuhl gesessen. "Es ist ein merkwürdiges Gefühl, jetzt wieder hier zu sein."
Seit Jahren geschlossen
Tsitoura ist eine von 1000 Mitarbeitern der "Hellenic Shipyards", die seit zwei Jahren keinen Lohn erhalten. Angestellt sind sie lediglich auf dem Papier. Das betrifft auch ihren Ehemann, Nikos Aivatzidis. Der 51-Jährige arbeitet schon seit 30 Jahren für die Werft, sein ganzes Berufsleben. In den 80er-Jahren war die Werft ein geschäftiger Ort, hier arbeiteten mehr als 6000 Menschen. "Damals schien es der sicherste Job der Welt zu sein", erinnert sich Aivatzidis.
Kündigen wird er nicht, denn dann würde er die Abfindung verlieren, die ihm nach so langer Betriebszugehörigkeit zusteht. Und selbst wenn der Familienvater kündigen würde, wie sollte er auf dem griechischen Arbeitsmarkt einen neuen Job finden? Die Aussichten sind so schlecht wie zuletzt vor einem halben Jahrhundert. Etwa 28 Prozent aller griechischen Arbeiter sind arbeitslos.
Löchrige Sozialversicherung
"Es ist sehr schwierig, in meinem Alter noch eine Anstellung zu finden", meint er. In Griechenland sei es nicht so wie Deutschland, England oder Frankreich, wo Arbeiter abgesichert seien und der Staat dabei helfe, Arbeit zu finden. "Unsere einzige Hoffnung ist, dass diese Firma wieder aufmacht."
Das soziale Sicherheitsnetz in Griechenland ist löchrig, es gibt keine Lebensmittelmarken, kein Wohngeld und nur vereinzelt Arbeitslosenversicherungen. Laut jüngsten Daten des griechischen Amts für Statistik leben fast 35 Prozent aller Griechen an der Schwelle zur Armut, mehr als sonst irgendwo in der Europäischen Union.
Zurzeit seien Hunderttausende Griechen arbeitslos oder arbeiteten ohne Bezahlung - seien also mehr oder weniger ohne Einkommen, schätzt Manos Matsaganis, Professor an der Wirtschaftsuniversität Athen.
"Man kann nur vermuten, wie sie sich über Wasser halten". Wahrscheinlich gingen sie an ihr Erspartes und liehen sich Geld von Freunden und Verwandten. "Irgendwann zahlen sie ihre Rechnungen nicht mehr, weder Hypotheken noch Steuern, Stromrechnungen oder Sozialversicherungsbeiträge."
Rechnungen stapeln sich
An dem Punkt sind Aivatzidis und Tsitoura auch schon angekommen. Ihre Eltern teilen die Rente mit ihnen, damit sie Lebensmittel kaufen können. Fast zwei Drittel aller griechischen Haushalte kommen nur mithilfe von Renten über die Runden. Aivatzidis Eltern wohnen nebenan und bringen ab und zu Lebensmittel vorbei. Tsitouras Mutter Maria lebt im Süden des Landes und bringt bei ihren monatlichen Besuchen Fleisch, Fisch und Olivenöl mit. Zusätzlich unterstützt sie ihren Sohn und seine Familie. Vassilis Tsitouras ist Buchhalter. In den vergangenen zwei Jahren haben die meisten seiner Klienten ihre Rechnungen nicht bezahlt und schulden ihm mittlerweile mehr als 40.000 Euro.
"So leben heute die meisten Familien", erklärt Maria Tsitoura. Ohne Oma und Opa liefe gar nichts. "Trotz unserer kleinen Rente helfen wir ein bisschen". Nach dem Abendessen spült Alexandra, während sich der neunjährige Fani, der siebenjährige Dimitris und der zweijährige Mario die Zähne putzen und bettfertig machen. Sie und ihr Mann versuchen, die Sorgen von den Kindern fernzuhalten, sagt Alexandra. "Wir versuchen ihnen genug zu geben, damit sie sich nicht benachteiligt fühlen."
Unbezahlte Wächter
Zurück auf der Werft fahren Nikos und Alexandra an zwei nicht fertiggestellten U-Booten im Trockendock vorbei. "Sie sind zu 80 Prozent fertig", erklärt Alexandra. "Seit zwei Jahren, also seitdem hier nicht mehr gearbeitet wird, verfallen sie und rosten vor sich hin."
Die U-Boote, die den griechischen Steuerzahler Milliarden kosten, standen im Kreuzfeuer eines gewaltigen Bestechungsskandals. Der U-Boot-Typ wurde vom damaligen Werfteneigner ThyssenKrupp Marine Systems entwickelt, gebaut wurden die U-Boote aber von Griechen wie Panagiotis Karantzakis.
Nach zwei Jahren ohne Gehaltsscheck sind seine Sparreserven aufgebraucht und er fragt sich, wie er seine Frau und zwei Kinder ernähren soll. Die Eltern können ihn nicht unterstützen. "Mein Vater hat sieben Kinder, wem soll er denn zuerst helfen?", fragt Karantzakis. Er habe zwar keine Hypothek, aber es werde immer schwieriger, die Strom-, Telefon- und Lebensmittelrechnungen zu bezahlen.
Karantzakis kommt täglich in die Werft, die mittlerweile mehrheitlich Abu Dhabi Mar gehört, um ein Auge auf die U-Boote zu werfen. Er sitzt in dem kalten Gewerkschaftsbüro, an der Wand hängt riesengroß ein Bild aus besseren Tagen: eine Werft, auf der es vor Arbeitern nur so wimmelt.
Viele offene Fragen
Nikos Aivatzidis fährt mindestens einmal die Woche die halbe Stunde von seiner Wohnung im Zentrum Athens zur Werft und geht in sein leeres Personalbüro. Vertrocknete Pflanzen säumen die dunklen Flure. Er kümmert sich um Papierkram, ein paar Angestellte haben gekündigt. Viele arbeiten jetzt im Ausland.
Er ist allein. Wenn er fertig ist, geht er zurück zu seinem Auto. Ein paar streunende Hunde hoffen auf Futter und folgen ihm. Sein Handy klingelt. Er blickt auf die Nummer, nimmt das Gespräch aber nicht an. "Das ist ein Inkassobüro", sagt er. "Sie wollen wissen, wann ich meine Hypothek abbezahle, aber die Frage kann ich nicht beantworten."