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Politik

"Das Urteil stärkt das Parlament"

Uta Steinwehr
24. September 2019

Die Zwangspause des britischen Parlaments ist illegal. Diese Entscheidung sei in mancherlei Hinsicht bemerkenswert, sagt der Jurist Martin Schmidt-Kessel. Das Urteil ist für ihn eine Weiterentwicklung der Rechtsordnung.

Großbritannien London | Houses of Parliament, The Commons Chamber
Bald werden die Bänke des Unterhauses des britischen Parlament nicht mehr verwaist sein (Archivbild)Bild: Getty Images/AFP/J. Tallis

Deutsche Welle: Das Oberste Gericht in Großbritannien hat entschieden, dass die Zwangspause für das Parlament nicht rechtmäßig ist. Kommt das für Sie überraschend?

Martin Schmidt-Kessel: In der Tat könnte man aus einer konservativ-britischen Perspektive sagen: Das ist eine Überraschung. Wir haben hier einen zusätzlichen Schritt an gerichtlicher Kontrolle über politische, verfassungsrechtliche Vorgänge im Vereinigten Königreich erlebt. Aus einer deutschen Perspektive ist dies im Hinblick auf das Bundesverfassungsgericht selbstverständlich, aber zur britischen Verfassungstradition passte dies so nur eingeschränkt. Wir haben heute eine Fortentwicklung der britischen Rechtsordnung erlebt. Das ist eine massive Stärkung der gerichtlichen Kontrolle des Regierungshandelns.

Lady Brenda Hale: Das Parlament wurde nicht vertagt

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Elf Richter haben das Urteil einstimmig gefällt. Ist das außergewöhnlich?

Ja und nein. Es ist gar nicht selten, dass es einstimmige Entscheidungen gibt. Die Entscheidung hier ist aber ein bisschen atypisch. Sie ist nur 25 Seiten lang. Für gewöhnlich sind Entscheidungen britischer Höchstgerichte deutlich länger. Bemerkenswert ist, dass es dem Gericht gelungen ist, sich auf eine einheitliche Linie zu einigen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wie wir aus dem deutschen Verfassungsgericht wissen. Es ist auch sicher eine bemerkenswerte Managementleistung der Präsidentin [Lady Brenda Hale, Anm. d. Red.], dass es ihr gelungen ist, hier alle auf eine Linie einzuschwören. Die einheitliche Linie hat dann auch zur Konsequenz, dass die Entscheidung sehr kurz ist.

Stärkt dieses Urteil die britische Demokratie?

Martin Schmidt-Kessel, Professor an der Universität BayreuthBild: Privat

Es stärkt das Parlament. Das Parlament kann künftig über längere Zeit nur noch aus einem guten Grund suspendiert werden. Vom Supreme Court heißt es, aus den vorliegenden Beweismitteln ergebe sich kein Grund für die Suspendierung in dieser außergewöhnlichen Situation, deswegen sei sie rechtswidrig. Das bedeutet, die Regierung muss sich künftig - wenn sie das Recht zur Prorogation, zur Suspendierung des Parlaments zu politischen Zwecken einsetzen will - dafür rechtfertigen, warum sie das tut. Und das musste sie bislang nicht.

Was bedeutet Ihrer Meinung nach dieses Urteil für Premierminister Boris Johnson, der diese Zwangspause ausgelöst hatte?

Boris Johnson muss sich hüten, das Spielchen nochmal zu versuchen. Es ist ja in der Verhandlung vor dem Supreme Court diskutiert worden, ob Johnson erneut eine Suspendierung herbeiführen könnte. Ich glaube, dass er damit gegen dieses Urteil verstieße und sich damit in "contempt of court", also in Respektlosigkeit gegenüber dem Gericht, befände. Das könnte durchaus mit Ordnungsmitteln belegt werden. Es könnte sein, dass er das ausprobiert, aber ich glaube, er wird es nicht tun. Ich glaube, das Mittel der Suspendierung des Parlaments ist ihm - jedenfalls kurzfristig - aus der Hand geschlagen worden.

Gegner der Parlamentsschließung freuen sich vor dem Gerichtsgebäude über das UrteilBild: Reuters/H. Nicholls

Es gibt die Vorbereitung für die Queen's Speech am 14. Oktober [- die Rede von Elizabeth II. zur Parlamentseröffnung, Anm. d. Red.]. Ich gehe davon aus, dass wir trotzdem eine kurze Suspendierung bekommen werden, aber nur die üblichen zwei, drei Tage. Und dann tritt das neue Parlament zusammen. Aus Sicht des Supreme Court wäre dagegen nichts einzuwenden. So habe ich das Urteil jedenfalls gelesen.

Aber es bleibt ein Blick in die Glaskugel, ob man sich die kurze Suspendierung für eine Parlamentseröffnung jetzt traut oder ob gleich der Weg zu Neuwahlen beschritten wird. Dazu kommt es meines Erachtens auf jeden Fall: Ich rechne mit Neuwahlen vor Weihnachten.

Wie schätzen Sie die Bedeutung des Urteils im Hinblick auf den Brexit ein? Es ist ja immer noch unklar, ob und wann der Austritt Großbritanniens aus der EU vollzogen wird.

Zunächst einmal hat die Präsidentin des Gerichts eine herrliche Formulierung zu diesem Auflösungsbeschluss des Parlaments verwendet. Das Papier mit der Order, das Parlament aufzulösen, sei wie ein weißes Blatt Papier. Die Auflösung ist also rechtlich so zu behandeln, als sei sie gar nicht passiert. Das heißt, das Parlament kann ab sofort wieder uneingeschränkt agieren.

Hofft darauf, selbst Premierminister zu werden: Labour-Chef Jeremy CorbynBild: Reuters/V. Jones

Damit sind aber natürlich noch keinerlei Mehrheiten im Parlament etwa für einen Deal zustande gekommen. Boris Johnson hat jetzt aus meiner Sicht entweder die Wahl, tatsächlich bei der Europäischen Union eine Verlängerung [der Brexit-Frist über den 31. Oktober hinaus, Anm. d. Red.] zu beantragen und damit seine früheren Ankündigungen ins Gegenteil zu verkehren oder aus dem Amt zu gehen und auf die Neuwahlen zu setzen. Die Verlängerung würde er dann etwa einem Premierminister Corbyn [Jeremy Corbyn, der Vorsitzende der Labour-Partei, Anm. d. Red.] überlassen, oder wer auch immer eine Art Übergangsregierung führen könnte.

Wenn es zu Neuwahlen kommt, fällt nach meiner Vermutung das taktische Interesse von Labour weg, das Austrittsabkommen zu blockieren. Corbyn will unbedingt Neuwahlen, um selbst eine Chance auf Downing Street 10 zu bekommen. Es könnte sein, dass Labour dann die Blockade gegen den Deal, wie er von Theresa May und ihren Leuten ausverhandelt worden ist, aufgibt. Damit könnten wir tatsächlich einen vielleicht geringfügig veränderten Deal als Ergebnis bekommen. Nach den Neuwahlen.

Martin Schmidt-Kessel ist Professor für deutsches und europäisches Verbraucher- und Privatrecht sowie Rechtsvergleichung an der Universität Bayreuth. Kern seines Arbeitsgebiets sind auch die Auswirkungen des Brexits auf Verträge. An der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät untersucht ein Forschungsprojekt, wie sich die britische, die deutsche und die europäische Rechtsordnung durch das Austrittsverfahren Großbritanniens aus der EU verändern.

Das Interview führte Uta Steinwehr

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