Großbritannien: Leben wie im Mittelalter auf der Insel Sark
Die Kanalinsel Sark ist fünf Kilometer lang und zweieinhalb Kilometer breit. Sie liegt näher an Frankreich als an Großbritannien - und ist doch der englischen Krone unterstellt. "Ein Stück Frankreich, ins Meer gefallen und von England adoptiert", so der Schriftsteller Victor Hugo, der 18 Jahre im Exil auf den Kanalinseln lebte.
Die Sarkesen finden allerdings, dass ihr Mutterland weit weg ist, und Europa ebenfalls. Tatsächlich fühlt sich eine Reise nach Sark wie eine Fernreise an - oder wie ein Ausflug in die Vergangenheit. Das Eiland ist mit der EU nur locker assoziiert und weist bis heute feudale Strukturen auf - auch wenn diese Stück für Stück demokratischen Reformen weichen.
Statt Taxen gibt's nur Pferdedroschken
Tim Winter fuhr schon als Kind jedes Jahr mit seinen Eltern auf die britische Kanalinsel Sark. Das war vor dreißig Jahren. Heute macht er dort mit seiner eigenen Familie Urlaub. Sark ist für ihn ein Tropfen Old England mitten im Meer. Er staunt immer wieder, wie eine kleine Gemeinde im 21. Jahrhundert noch so leben kann.
Knapp eine Stunde braucht das kleine Fährschiff von der Nachbarinsel Guernsey nach Sark. Über dem Hafen türmen sich nackte Felsen, über hundert Meter hoch. Die Besucher gehen durch einen Tunnel. Auf der anderen Seite erwarten sie üppige Blumenhaine, eine lauschige Straße und weiter oben ein Pub, ein Fahrradverleih, und statt Taxen fahren hier gemächlich Pferdekutschen. Autos sind auf Sark nämlich verboten. Flugzeuge dürfen auch nicht landen. Das heißt aber nicht, dass die Besucher in die Steinzeit zurückversetzt werden. Handys, Internet und Fernsehen sind auch auf der Insel weit verbreitet. Aber die moderne Technik scheint ihr Leben nicht zu dominieren.
Wie im Paradies?
Fred, ein Kutscher, deutet auf ein Steinhäuschen: das örtliche Gefängnis, das kleinste der Welt. Es hat Platz für genau zwei Gefangene. Auf Sark leben etwa 600 Bewohner und zwei ehrenamtliche Polizisten, vom Inselparlament auf zwei Jahre gewählt. Viele Sarkesen werden damit selbst irgendwann zum Ordnungshüter. Aber sie haben wenig zu tun. Auf Sark gibt’s kaum Verbrechen. Meist sind die Zellen leer. Überhaupt läuft auf Sark vieles anders. Die Sarkesen haben britische Pässe, aber sie bestimmen ihre eigene Innenpolitik. Politische Positionen werden ehrenamtlich besetzt. Sarkesen zahlen kaum Steuern.
Das sieht auf den ersten Blick wie ein Steuerparadies aus. Doch auf der anderen Seite muss jeder selbst vorsorgen: es gibt keine staatliche Kranken- oder Sozialfürsorge, viele haben mehrere Jobs. Penny Prevell zum Beispiel. Sie ist Kutscherin, Botanikerin, arbeitet im Besucherzentrum und organisiert Wildblumenführungen. Auf Sark wachsen Pflanzen, die viele Besucher seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen haben. Auf einer so kleinen Insel seien die sozialen Bande noch intakt, sagt Penny Prevell. Jeder kennt jeden. Niemand würde seinen Nachbarn beklauen - vielleicht muss er ihn ja schon bald um Hilfe bitten.
Feudalismus im 21. Jahrhundert
Manche Strukturen gehen auf feudale Zeiten zurück. Im 16. Jahrhundert übergab Königin Elisabeth I. das Eiland einem Lehnsherren. er sollte Sark vor Piraten und Franzosen schützen. Der erste Seigneur, Helier de Carteret, unterteilte die Insel und gab jeder Siedlerfamilie ein Lehnsgut - oder Tenement - sowie eine Stimme im Parlament, die von Generation zu Generation vererbt wurde. Als Gegenleistung musste jedes Tenement im Verteidigungsfall einen bewaffneten Mann stellen.
Der heutige Seigneur ist ein bescheidener Mann. Am liebsten bastelt er in seinem verwinkelten Herrenhaus oder arbeitet im Garten. Die meisten Privilegien hat er verloren. Das scheint ihn aber nicht weiter zu betrüben. In Kürze sind weitere Reformen geplant, das derzeitige System ist nicht mit den Menschenrechten vereinbar. Viele finden, das allgemeine Wahlrecht sei am besten.
Irgendwann zieht's jeden zurück auf die Insel
George Guille, ein Seeman aus alter Sark-Familie, blickt besorgt in die Zukunft. George organisiert Schiffsrundfahrten. Früher lebten die Sarkesen von Fischerei und Landwirtschaft. Heute sind sie auf Touristen angewiesen. Aber die fahren lieber nach Spanien, sagt George. Eigentlich hätten zwölf Leute in seinem Holzboot Platz, doch heute sind’s nur vier. Die Touristen sind fasziniert von den bizarren Felsformationen, den Klippen und vor allem den Höhlen, gigantischen Felskathedralen, hunderte von Metern tief.
George findet, die Sarkesen sollten lieber ein paar Jahre zurückgehen, als zu schnell nach vorne preschen. Immer mehr Leute wollten nur auf Sark leben, um Steuern zu sparen und nicht, weil ihnen das Wohl der Gemeinschaft am Herzen liege. Georges Tochter lebt auf der Insel, sie hat eine junge Familie. Seine Söhne sind auf der Nachbarinsel im College. Nach dem Abschluss wollen sie erst einmal auf Reisen gehen. Das kann er gut verstehen. Natürlich wollen sie die Welt sehen – als junger Mann zog es ihn auch weg. Aber er ist überzeugt: eines Tages kommen auch sie auf ihre Heimatinsel zurück.