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Großbritannien: Migranten in Angst vor neuer rechter Gewalt

Rosie Birchard Liverpool, mit Agenturen
8. August 2024

Nach Tagen rechter Gewaltexzesse, scheint sich die Lage in Großbritannien zu beruhigen. Doch viele Migranten im Land sind traumatisiert, fürchten weitere Ausschreitungen - trotz breiter Solidarität aus der Bevölkerung.

Großbritannien: Demonstranten halten gelbe Schilder mit der Aufschrift "Smash Fascism & Racismen hoch.
Zeichen gegen rechtsradikale Hetze: In Großbritannien demonstrierten am Mittwoch (6.8.2024) tausende von Menschen gegen Hass und RassismusBild: Burak Bir/Anadolu/picture alliance

Ein ganzes Land ist erleichtert. Die befürchteten weiteren rechtsextremen Ausschreitungen in Großbritannien sind ausgeblieben.

Stattdessen demonstrierten am Mittwochabend in mehreren englischen Städten rund 25.000 Menschen friedlich gegen Rassismus und rechtsextreme Gewalt.

Londons Bürgermeister Sadiq Khan bedankte sich auf X bei den friedlich demonstrierenden Menschen und den Sicherheitskräften. Und er erklärte gegenüber britischen Medien: "An alle rechten Schläger, die noch immer Hass und Spaltung säen wollen - ihr werdet niemals willkommen sein."

Auch in den Schlagzeilen der Zeitungen spiegelte sich die Erleichterung wider. "Die Nacht, in der Anti-Hass-Demonstranten den Schlägern die Stirn boten", titelte die konservative Boulevardzeitung Daily Mail.

Trauer: Viele Menschen nahmen nach der tödlichen Messerattacke in der Nähe des Tatorts in Southport an einer Mahnwache teil und gedachten der OpferBild: James Speakman/PA Wire/dpa/picture alliance

Nation unter Schock

Die schlimmsten Unruhen in Großbritannien seit einem Jahrzehnt begannen nach einer tödlichen Messerstecherei am 29. Juli in einem Kinderclub in der Küstenstadt Southport. Drei Mädchen zwischen sechs und neun Jahren, die an einem Ferien-Tanzkurs mit dem Thema Taylor Swift teilgenommen hatten, wurden von einem 17-Jährigen erstochen.

Acht weitere Kinder und zwei Erwachsene wurden zum Teil schwer verletzt. Das ganze Land war geschockt.

Aufgrund des Alters des mutmaßlichen Mörders, 17 Jahre, wurden Einzelheiten über seine Identität tagelang geheim gehalten. Schon bald machten falsche Behauptungen die Runde, der Angreifer sei ein muslimischer Asylbewerber.

Selbst als die Polizei den Verdächtigen schließlich als Axel Rudakubana identifizierte - geboren in Cardiff, Wales, als Sohn ruandischer Eltern, die keine Verbindung zum Islam haben - trug das wenig dazu bei, die Wut zu besänftigen.

Gewalt-Exzesse in Großbritannien: Unruhen nach Messerattacke

04:40

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Ein Leben in Angst

Seit den Ausschreitungen leben Migrantenfamilien in Angst. In Liverpool zum Beispiel haben Musliminnen damit begonnen, online Sicherheitstipps auszutauschen.

"Bleibt in Gruppen, lasst eure Autofenster oben und die Türen verschlossen", heißt es in einem Beitrag. Kinder aus Einwandererfamilien sind zu verängstigt, um in den Sommerferien den örtlichen Jugendclub zu besuchen.

Die  Shah-Jahan Moschee, älteste Moschee des Vereinigten Königreichs in Woking, 50 Kilometer südwestlich von London, lässt ihre Tore nun die meiste Zeit des Tages verschlossen, während ein Beamter des Innenministeriums von innen nach möglichen Bedrohungen Ausschau hält.

Umarmung für den Gegner

Aber es hat sich auch etwas Bemerkenswertes ereignet. Der örtliche Imam Adam Kelwick strahlt, als er zum Gebet in die Abdullah-Quilliam-Moschee kommt. Er sagt, dies sei so, weil er damit beschäftigt sei, "Brücken zu bauen".

Kelwick erregte weltweites Aufsehen, als er fotografiert wurde, wie er mitten durch eine Phalanx von Gegendemonstranten schritt, um einen Mann in einer Menschenmenge zu umarmen, die vor seiner Moschee Anti-Islam-Parolen skandierte. Der Fotograph Joel Goodman hielt diesen Moment fest.

"Wir gingen zu ihnen hinüber und teilten unser Essen. Wir lächelten gemeinsam. Wir haben geredet. Wir haben zugehört", sagte er der DW in Liverpool.

"Die Menschen sind aufrichtig besorgt und haben echte Angst. Und wenn sie erst einmal erkannt haben, dass wir uns um unsere Familien kümmern und das Beste für das Land wollen, dann erkennen sie, dass viele der Probleme, die sie sehen, auch von uns geteilt werden."

"Wir werden den Hass nicht gewinnen lassen": Kosmetikerin Alex McCormack steht vor einer Spanplatte, die das zerstörte Fenster der von rechtsradikalen Demonstranten gestürmten Stadtbibliothek abdeckt. Für den Wiederaufbau sammelte sie online erfolgreich SpendenBild: Rosie Birchard/DW

Spendenaktion für beschädtigte Bibliothek

Ein paar Autominuten entfernt von der Moschee liegt die Spellow-Bibliothek. Auch dieses Gebäude wurde angegriffen. Die zerbrochenen Fenster wurden eilig mit Brettern vernagelt, und die Bücher und Materialien, die die Plünderung durch die Randalierer am Samstag überlebt haben, wurden in Sicherheit gebracht.

Die örtliche Nageltechnikerin Alex McCormick sagte, sie sei "untröstlich" gewesen, als sie hörte, dass die Bibliothek gestürmt worden war. Schnell richtete sie eine Online-Spendenplattform ein, mit dem bescheidenen Ziel, 500 britische Pfund zu sammeln. Schon in wenigen Tagen hatte sie mehr als 150.000 Pfund zusammen.

"Es ist überwältigend", sagte sie vor der Bibliothek zur DW. "Ich hätte nie gedacht, dass wir so viele Spenden aus der ganzen Welt erhalten, und so viele nette Nachrichten und Kommentare bekommen."

Existenzangst und Erschütterung: Ein junger Mann steht vor seinem Supermarkt, der von Randalierern und antimuslimischen Protestierenden durch ein Feuer schwer beschädigt wurdeBild: Jonathan Mccambridge/dpa/PA Wire/picture alliance

"Wie ein Pulverfass"

Die Lehrerin Gemma Gray, die näher am Stadtzentrum wohnt, macht sich Sorgen um ihre Schüler und ihre Gemeinde. Sie sagt, Liverpool fühle sich immer noch wie ein Pulverfass an.

"Ich glaube, wir sind noch lange nicht am Ende", sagte sie. "Man befürchtet das Schlimmste für seine Stadt. Man hat einfach ein Gefühl von: Wohin sollen wir jetzt gehen? Wir sind verloren."

Bei älteren britischen Muslimen wurden schlechte Erinnerungen an vergangenen Zeiten wieder wach. Viele Mitglieder der muslimischen Community, mit denen die DW sprach, äußerten das Gefühl, dass sich die Situation seit langem aufgestaut und nun einen Siedepunkt erreicht habe.

Eingeschlossen in der Moschee

Zaf Iqbal, ein 60-jähriger Taxifahrer, nannte den Brexit und die Rhetorik der "Rückeroberung der Kontrolle" als Faktoren, die dazu beigetragen hätten. "Es gibt viel Ignoranz und fehlgeleitete Frustration", sagte er.

Rechtsradikale Demonstranten stoßen mit der Polizei in Bristol zusammen. Einige von ihnen haben Pflastersteine in der HandBild: JUSTIN TALLIS/AFP

Als Sohn pakistanischer Eltern in Sunderland geboren und aufgewachsen, gehört Iqbal zur britisch-asiatischen Gemeinschaft, die laut Volkszählungsdaten 9,3 Prozent der Bevölkerung von England und Wales ausmacht.

Er hoffte, dass seine Kinder nie mit dem Rassismus konfrontiert werden würden, der seine eigene Kindheit prägte. Aber diese Hoffnung scheint sich nicht zu erfüllen. Am Wochenende wurde er sogar in seiner örtlichen Moschee eingeschlossen, während die Polizei die Menschenmenge draußen in Schach hielt.

"Es war beängstigend", sagte er der DW am Telefon. "Selbst als sich die Unruhen auflösten, wurde ich am nächsten Tag auf der Straße noch mit rassistischen Beleidigungen konfrontiert."

Wie andere auch ist Iqbal nun entschlossen, die Gräben, die sich aufgetan haben, zu überwinden. Oberste Priorität sei es, eine Verschärfung der Spannungen zu verhindern.

Großbritanniens Polizeiministerin Diana Johnson will trotz der friedlichen Demonstrationen am Mittwoch noch keine Entwarnung geben.

Es sei gut, dass sich die Gewalt und Kriminalität der vergangenen Tage nicht wiederholt haben, sagte sie dem Nachrichtensender Sky News. Doch es gebe bereits Ankündigungen für weitere rechtsextreme Proteste.

Der Text wurde aus dem Englischen adaptiert und aktualisiert von Astrid Prange de Oliveira.