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PolitikEuropa

Große Sorge um Rechtstaatlichkeit in der EU

Barbara Wesel
20. Juli 2021

Im zweiten EU-Rechtsstaatlichkeitsbericht der EU-Kommission geht es darum, in welchem Maße ihre Mitglieder die Prinzipien eines Rechtsstaates wahren. In der Kritik stehen nicht nur Polen und Ungarn. Ein Überblick.

Bildgalerie 50 Jahre Römische Verträge I Fahnenmasten mit den Flaggen der EU-Staaten wehen vor dem Gebäude des Europaparlaments in Strasbourg
Flaggen der EU-Staaten vor dem Gebäude des EuropaparlamentsBild: Thomas Ruffer/imageBROKER/picture alliance

1. Vorrang von Europäischem Recht

Der Bundesgerichtshof war im vergangenen Jahr mit schlechtem Beispiel vorangegangen, als er den Anleihekauf der Europäischen Zentralbank und die Rechtsauslegung des Europäischen Gerichthofes (EuGH) dazu in Frage stellte. Mit Blick auf Polen geht es jetzt unter anderem um Folgendes: Die EU streitet seit Jahren mit Warschau über Justizreformen der rechtsnationalistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Unter anderem geht es dabei um die 2018 eingerichtete Disziplinarkammer des Obersten Gerichts. Brüssel bezweifelt die politische Unabhängigkeit dieses Gremiums und erhielt in dieser Frage vergangene Woche eine Bestätigung des EuGH. Zuvor hatten die Luxemburger EU-Richter bereits von Brüssel beantragte einstweilige Maßnahmen bewilligt, wonach die Disziplinarkammer noch vor dem Urteil ihre Arbeit einstellen müsse. Ein Grundsatzurteil aus Warschau wird Anfang August erwartet.

"Der Vorrang von EU-Recht ist unsere gemeinsame Basis, wenn sie angegriffen wird, haben wir ein Problem", sagte Justizkommissar Didier Reynders dazu. Die Frage nach möglichen Konsequenzen kann nicht mehr von der Kommission, sondern muss vom Rat der Regierungen beantwortet werden. Dieser Fall ist wohl derzeit der bedrohlichste Fall für den vertraglichen Zusammenhalt der EU. Klar ist: Wenn Polen sich offen gegen den Vorrang von EU-Recht entscheidet, werden die Mitgliedschaft und die entsprechenden Rechte in Frage gestellt werden. Kommissionsvizepräsidentin Vera Jourova hat jetzt bereits klar gemacht: Sollte es nicht zur Aussetzung der umstrittenen Disziplinarkammer für polnische Richter kommen, drohe eine Geldstrafe.       
 

"Der Vorrang von EU-Recht ist unsere gemeinsame Basis, wenn sie angegriffen wird, haben wir ein Problem", sagte EU-Justizkommissar Didier ReyndersBild: Bernd Riegert/DW

2.   Unabhängigkeit der Justiz

Beim Thema Justiz hat die Kommission an verschiedenen Mitgliedsländern Kritik: etwa an Deutschland beim Auswahlprozess für Oberste Richter, in Italien an der Langsamkeit der Rechtsprechung, in vielen Ländern wird die langsame Digitalisierung bemängelt. Lob gibt es etwa für erste Schritte einer Grundsatzreform in Malta, wo die Justiz völlig politisiert war. In Bulgarien wiederum gingen die Reformen zu langsam voran.

Die schärfste Kritik geht jedoch an Polen und Ungarn.Das ungarische System erlaube inzwischen die Ernennung höchster Richter außerhalb des üblichen Verfahrens, was die Zweifel an ihrer Unabhängigkeit verstärke, so der Bericht. Frühere Empfehlungen der Kommission zur Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit würden in Budapest ignoriert.

Die Entwicklungen im polnischen Justizsystem aber werden mit "ernster Sorge" beobachtet. Seit 2015 sei die Macht der Regierung und des Gesetzgebers gegenüber der Justiz gewachsen, was zur Einleitung eines Verfahrens nach Artikel 7 geführt habe. Obwohl die EU und der Europäische Gerichtshof die Unabhängigkeit des Nationalen Richterrates bezweifeln, arbeite er weiter. Das Oberste Gericht ist durch jüngste Gesetzesänderungen weiter in seiner Funktion beeinträchtigt worden und die Ernennung der Obersten Richter genüge nicht den Ansprüchen.

In Ungarn wurden Klub-Radio dicht gemachtBild: Felix Schlagwein/DW

3.   Pressefreiheit

Der Medienmarkt in Polen galt bisher als vielfältig, aber jüngste Entwicklungen werden als bedrohlich betrachtet - etwa der Kauf von Polska Press durch den staatlichen Orlen Konzern. Der polnische Ombudsmann stelle diese Entscheidung wegen der Auswirkung auf die Medienpluralität in Frage. Ein neuer Gesetzesvorschlag richte sich vor allem gegen Medien in ausländischem Besitz und bedrohe ihre künftige Arbeit.. Seit 2020 Jahr hätten sich die Arbeitsbedingungen von Journalisten deutlich verschlechtert, heißt es in dem Bericht. Es gebe Einschüchterungen per Gerichtsverfahren, Polizeiübergriffe und mangelnden Schutz für die Arbeit von Journalisten.

Auch in Ungarn ist die Pressefreiheit weiter gefährdet, wie die EU-Kommission berichtet. Das bezieht sich auf die Unabhängigkeit der Medienregulierungs-Behörde an sich und spezifisch die Entscheidung, Klub-Radio zu schließen. Darüber hinaus sei staatliche Werbung gezielt eingesetzt worden, um "indirekten politischen Einfluss über die Medien zu auszuüben". Auch wurde die Corona-Pandemie genutzt, um Informationen durch unabhängige Medien zu beschränken. Darüber hinaus sehen sich unabhängige Medien und Journalisten weiter Behinderungen und Einschüchterung ausgesetzt.

Einzelkritik gibt es auch an anderen EU-Ländern, etwa an Malta. Dort würden nach dem Mord an Daphne Garuana Galizia die Medien weiter in der Informationsbeschaffung behindert werden. Aber auch an Slowenien, das gerade die EU-Ratspräsidentschaft innehat, gab es Kritik. Dort beobachte man eine Verschlechterung der Medienfreiheit und die Einschüchterung von Journalisten durch die Regierung. Aber auch die Niederlande, im Prinzip ein Hort freier Medien, werden aufgefordert, über das Handeln der Regierung besser Auskunft zu geben und - nach dem Mord an Peter de Vries - mehr gegen die Bedrohung von Journalisten zu tun.

4. Korruption

In vielen Mitgliedsländern ist Korruption weiter ein großes Thema. Lob gibt es dabei etwa für die Slowakei, die inzwischen große Korruptionsfälle vor Gericht gebracht und ihre Gesetzgebung gestärkt habe. Allerdings müsse noch mehr zur Vorbeugung gegen Korruption mit EU- und öffentlichen Geldern getan werden.

Malta - Journalistin Daphne Caruana Galizia wurde ermordet Bild: picture-alliance/AP Photo/J. Borg

Rumänien habe inzwischen eine umfassende Gesetzgebung gegen die endemische Korruption eingeführt, die Umsetzung aber werde fortgesetzten politischen Willen erfordern. Bulgarien, Malta und Zypern werden negativ erwähnt. In Polen wiederum gebe es zwar die Gesetzgebung, die EU-Kommission hat aber Zweifel an der Unabhängigkeit der Institutionen, die den Kampf gegen Korruption führen müssen. Vor allem, weil die Anti-Korruptionsbehörde dem Justizminister und der Oberstaatsanwaltschaft untersteht.

Auch Ungarn wird hier besonders kritisiert: Der Kampf gegen Korruption werde nur "sehr begrenzt geführt". Auch bei der Parteienfinanzierung und dem Lobbyismus gebe es Probleme. Ungarn sei auch bedroht  von Klientelwirtschaft und Nepotismus. Große Korruptionsprozesse zeigten kaum Ergebnisse.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban steht in der KritikBild: picture-alliance/dpa/J. Neudecker

Was folgt aus dem Bericht?

Der Rechtstaatlichkeitsbericht wird als Grundlage für eine "Diskussion in der EU" bezeichnet. Aus den aufgezeigten Verfehlungen folgen keine direkten Sanktionen. Allerdings wird der Ruf nach Konsequenzen aus dem demokratie- und gemeinschaftsschädlichen Verhalten einiger Mitgliedsländer  - vor allem im Europaparlament - immer lauter. Dort wird der Kommission inzwischen mit einer Klage gedroht, wenn sie nicht den neuen Rechtsstaatsmechanismus einsetzt und den betreffenden Ländern Mittel sperren werde.  

Derzeit ist die Auszahlung der Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds für Ungarn und Polen noch gesperrt. Jetzt wird es darum gehen, ob dieser an konkrete Reformen und Korrekturen bei entscheidenden demokratischen und politischen Grundsätzen in beiden Ländern gebunden werden kann oder nicht. Die Aussetzung von Geldern ist das letzte Mittel mit dem die EU versuchen kann, Mitgliedsländer wieder auf Kurs zu bringen.

 

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