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Literatur

Héctor Abad: "Fühle mich nicht mehr als Opfer"

Nicolas Martin
3. Januar 2017

Die Geschichte des Autors Héctor Abad Faciolince ist eng mit dem Konflikt in Kolumbien verwoben: Sein Schwager wurde entführt, sein Vater getötet. Warum Abad sich trotzdem nicht als Opfer sieht, erzählt er im Interview.

Héctor Abad Faciolince
Héctor Abad FaciolinceBild: picture-alliance/Effigie/Leemage

Deutsche Welle: Die zeitgenössische kolumbianische Literatur handelt viel von Gewalt, Morden und Ängsten. Kolumbien wiederum gilt als eines der schönsten Länder der Erde. Warum diese Schwere?

Héctor Abad: Unsere Vorstellungskraft speist sich aus unseren Erfahrungen und Erinnerungen. Mir gefällt es auch nicht, über Gewalt zu schreiben. Ich lehne sie ab und bin selbst nicht gewalttätig. Aber wenn diese Gewalt mit aller Kraft an deine Tür klopft, dich mit Blut besudelt und sogar jemanden der Deinen tötet, dann fühlt es sich falsch und wenig authentisch an, nicht über Gewalt zu schreiben.

In Ihren Büchern verarbeiten Sie auch Ihre eigene Geschichte mit dem bewaffneten Konflikt in Kolumbien. Mehr als 50 Jahre lang haben sich die Guerilla, Paramilitärs und die Regierung bekämpft. Wie hat der Bürgerkrieg Sie direkt betroffen?

Meine Familie hat eine sehr enge Verbindung zum ländlichen Kolumbien. Vor allem dort hat sich der Konflikt abgespielt. Meinen Schwager hat die Guerilla zweimal entführt. Er besitzt 120 Kühe und produziert Milch. Die erste Entführung dauerte nur kurz an, beim zweiten Mal war er einige Monate in Gefangenschaft. Danach musste er regelmäßig Schutzgeld bezahlen, um seinen Betrieb weiterzuführen. Eine Exfreundin von mir ist bei einem Autobombenanschlag des Drogenbarons Pablo Escobar schwer verletzt worden. Viele Menschen starben. Meine Freundin hatte nach dem Anschlag außer im Gesicht am ganzen Körper kleine Narben von den Glasscherben, die bei der Explosion durch die Gegend flogen.

Und dann ist da noch Ihr Vater. Ein sehr bekannter Medizinprofessor, der sich für die Menschenrechte und gegen Gewalt engagierte und den die rechten Paramilitärs 1987 auf offener Straße erschossen.

Mein Vater war ein sehr gütiger und großzügiger Mann. Sein Tod ist für mich persönlich sicherlich auch das schmerzlichste Opfer. Der bewaffnete Konflikt lässt sich vielleicht nicht mit den Grausamkeiten der europäischen Kriege des 20. Jahrhunderts vergleichen, aber die Ausmaße der Gewalt sind dennoch massiv. Meine Familie hat es dabei von beiden Seiten erwischt. Von der extremen Linken und der extrem Rechten. Mein Vater war immer überzeugt davon, dass ein Friedensvertrag das Beste wäre, um die Gewalt im Land zu verringern. Ich selbst war viele Jahre im Exil. Nun bin ich zurück und sehe ein ernsthaftes Bemühen, dass die Träume, die mein Vater vor 30 Jahren hatte, wahr werden. 

Héctor Abad (rechts) mit Mario Vargas Llosa auf der Internationalen Buchmesse im mexikanischen GuadalajaraBild: Imago/Zuma Press

Kolumbien ist ein sehr vielseitiges Land. Viele Intellektuelle im Land argumentieren, dass Kolumbien wegen seiner Heterogenität noch nicht bereit für den Frieden sei. Was halten Sie von dieser Einschätzung?

Deutschland hat es doch sogar geschafft, mit der DDR einen ganzen Staat zu integrieren. Also warum sollten wir es nicht schaffen? Hier in Kolumbien fühlt man sich an einigen Orten wie in den USA, an anderen wie in Asien, Afrika oder sogar einem arabischen Land. Wir haben Täler, die erinnern an die Schweiz. Es gibt hier sogar Holsteiner-Pferde. Wir haben andine, afrikanische und europäische Musik. Unser Land ist groß und vielseitig. Aber zu behaupten, diese vielen Kolumbiens könnten nicht zusammenwachsen, das halte ich für falsch. Wie sollen wir denn wissen, dass wir nicht bereit für den Frieden sind, wenn wir es nicht probieren? Der Traum der Menschheit ist doch, dass wir trotz unserer Unterschiede zusammenleben können. Darin liegt doch der Erfolg der Menschheitsgeschichte. 

Am 2. Oktober 2016 stimmten die Kolumbianer in einem Referendum gegen einen Friedensvertrag zwischen Regierung und der Guerillagruppe Farc. Nun gibt es ein überarbeitetes Abkommen. Glauben Sie, dass die Versöhnung im Land jetzt gelingen kann?

Genauso wie ich damals für den Frieden mit den Paramilitärs war (Anm. d. Red.: 2006 demobilisierten sich fast 30.000 paramilitärische Kämpfer), so bin ich auch jetzt für den neuen Friedensvertrag. Es ist Kolumbiens Chance, sich dringenderen Problemen zu widmen, anstatt einen unnützen und absurden Krieg zu führen, den keiner gewinnen kann. Die Versöhnung ist aber sehr schwierig in der heutigen Welt, wo die Ideen des Hasses siegen. Nicht nur in Kolumbien. Auch in Europa, beispielsweise in Frankreich, könnten sie sich durchsetzen. Dann war da der Brexit, der Erfolg von Donald Trump. Momentan ist Konfrontation populär. Der Zeitgeist erlaubt es, sich als Anti-Establishment zu bezeichnen und dabei gewalttätig, rassistisch, antifeministisch und schwulenfeindlich zu sein.

Trotz Ihrer eigenen Geschichte bezeichnen Sie sich selbst nicht als Opfer des Konflikts in Kolumbien, warum?

Natürlich werden mich diese Erlebnisse und Verluste mein ganzes Leben begleiten. Aber der Groll und die Beharrlichkeit, sich permanent als Opfer zu sehen, das kann dich innerlich zerstören. Ich hatte das Glück, ein Buch über das Leben und die Ermordung meines Vaters schreiben zu können. Das war für mich sehr heilsam und erlaubt mir, mich nicht mehr als Opfer zu fühlen. Ich konnte meine eigene Wahrheit pflanzen, die auch von vielen Menschen gelesen wird. 

Der kolumbianische Autor und Herausgeber Héctor Abad Faciolince ist in Deutschland vor allem unter seinem ersten Nachnamen bekannt. 1958 wurde er in Medellín geboren. Nach der Ermordung seines Vaters floh Abad für fünf Jahre nach Europa ins Exil. International wird Abad häufig als der neue Gabriel García Márquez gehandelt. Seinen Durchbruch hatte er mit dem Buch "Brief an einen Schatten. Eine Geschichte aus Kolumbien" (Originaltitel: "El olvido que seremos") über seinen ermordeten Vater. Auch in Essays und Kolumnen meldet er sich zu politischen Themen zu Wort. Zuletzt erschien sein neuer Roman "La Oculta" über die Finca seiner Familie auf Deutsch.

Das Gespräch führte Nicolas Martin.

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