Höhere Renten für ehemalige Dissidenten in Tschechien
19. November 2024Petruska Sustrova war eine bekannte tschechische Journalistin, Übersetzerin und Osteuropa-Expertin. Auch als sie schon längst im Rentenalter war, konnte sie sich nicht zur Ruhe setzen. "Ich werde für den Rest meines Lebens arbeiten müssen", sagte sie resigniert. "Denn mit meiner Rente komme ich einfach nicht über die Runden."
Sustrova gehörte in der Zeit der "Normalisierung", die nach der sowjetischen Besatzung der Tschechoslowakei im August 1968 einsetzte und bis zum Sturz des Kommunismus am 17.11.1989 andauerte, zu einer Gruppe von Dissidenten und aktiven Regimegegnern. Sie war eine der Erstunterzeichnerinnen und spätere Sprecherin der Charta 77, die von Vaclav Havel angeführt wurde.
Die Charta 77 war ein Dokument, das von bekannten Regimegegnern verfasst worden war und das sich auf die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) bezog. Sie wurde am 1.1.1977 europaweit veröffentlicht und löste eine Repressionskampagne gegen ihre Unterzeichner aus.
Auch Sustrova wurde wegen ihrer Aktivitäten als Mitglied der Gruppe für mehrere Jahre inhaftiert. In den 1980er Jahren, als sie eine der sichtbarsten tschechischen Dissidenten war, durfte sie sieben Jahre lang überhaupt nicht arbeiten; in den anderen Jahren konnte sie nur minderwertige und sehr schlecht bezahlte Arbeiten verrichten. So wie Sustrova erging es Hunderten von Dissidenten. Die Folge: Im Alter haben sie kaum Anspruch auf Rente.
Niedrige Renten für Dissidenten, hohe für Kommunisten
Bisher hatte die tschechische Sozialversicherungsverwaltung die Arbeitsjahre und die dabei verdienten Löhne der ehemaligen Dissidenten maschinell in Renten umgerechnet. Da die Regimegegner aber in der Zeit des Kommunismus entweder gar keine oder nur sehr geringe regelmäßige Einkünfte hatten, waren ihre Rentenbezüge nur gering. Viele von ihnen lebten in Armut oder mussten über das Renteneintrittsalter hinaus weiter arbeiten.
Im Gegensatz zu ihnen konnten sich die Befürworter und Unterstützer des kommunistischen Regimes über hohe Renten freuen. Die Altersbezüge der linientreuen Angestellten, der Offiziere und Mitglieder des Staatssicherheitsdienstes und anderer Personen, die zur obersten Ebene des ehemaligen Regimes gehörten, waren in den letzten Jahrzehnten mehr als auskömmlich. Ganz zu schweigen von dem enormen Privatvermögen der ehemaligen Machthaber, das sie während der vierzigjährigen kommunistischen Herrschaft angehäuft hatten. Dazu gehörten Villen im Wert von Millionen Euro, die sie auch nach 1989 behalten durften.
Diese Ungerechtigkeit war Folge des bewusst sanften Umgangs mit den Funktionären des ehemaligen Regimes durch die demokratischen Regierungen nach dem Ende des Kommunismus. Es war Teil der Strategie der antikommunistischen "Samtenen Revolution" von 1989, die mit einer Vereinbarung über eine friedliche Machtübergabe und einem schnellen Übergang zur Demokratie endete. Hinzu kommt, dass viele der jüngeren hochrangigen Kommunisten nach 1989 von den Privatisierungen profitierten und zu erfolgreichen und wohlhabenden Unternehmern wurden. Unter ihnen ist auch der frühere tschechische Premierminister, der Oligarch Andrej Babis.
Gerechtigkeit nach 35 Jahren
Auf diese anhaltende Ungerechtigkeit machten die beiden Dissidenten Jiri Gruntorad und John Bok, beide Unterzeichner der Charta 77, im Jahr 2023 aufmerksam. Sie traten vor dem Sitz der tschechischen Regierung in Prag in den Hungerstreik und forderten höhere Renten für sich und andere Schicksalsgenossen. "Oft haben diese Menschen im Gefängnis gesessen, oder sie sind aus dem Land getrieben worden. Dass sie nun um Geld betteln müssen, ist absurd", sagte Gruntorad damals.
Erst nach dieser aufsehenerregenden Aktion kam Bewegung in die Sache. Die Regierung von Ministerpräsident Petr Fiala, die sich auf das Erbe der Samtenen Revolution beruft, begann sich mit dem Problem zu befassen. Sie änderte die für die Dissidenten ungerechten Sozialgesetze. Für mehrere hundert Gegner des kommunistischen Regimes brachte die Anhebung ihrer Renten auf die tschechische Durchschnittsrente von rund 800 Euro im Monat eine erhebliche Verbesserung.
Für Petruska Sustrova war es dagegen zu spät. Sie starb im vergangenen Jahr im Alter von 76 Jahren.
Regierung beschließt Rentenanhebungen
Die Erhöhung betreffe derzeit 430 ehemalige Dissidenten, die wegen Inhaftierung oder Vertreibung ins Exil niedrige Renten hatten, erklärte der tschechische Arbeits- und Sozialminister Marian Jurecka in der vergangenen Woche zum 35. Jahrestag der Samtenen Revolution. Im Durchschnitt wurden die Renten der Regimegegner um 4400 Kronen (knapp 200 Euro) pro Monat erhöht. "Es ist ein symbolischer Schlusspunkt nach 35 Jahren, den man heute noch setzen kann. Es ist eine symbolische Abrechnung mit der Vergangenheit und einigen Ungerechtigkeiten, die begangen wurden", sagte Jurecka.
Die schon im vergangenen Jahr vorgenommene Änderung des Sozialversicherungsgesetzes beinhaltete auch Kürzungen bei den sehr hohen Pensionen der Spitzenfunktionäre des kommunistischen Regimes. "Bei 177 Personen wurden die Renten gekürzt, die höchste Kürzung betrug 7775 CZK (279 Euro)", teilte das tschechische Arbeitsministerium mit. Im Schnitt wurden die Renten der ehemaligen Spitzenbeamten um fast 1500 CZK (60 Euro) gekürzt. Dennoch erhalten die meisten auch nach den Kürzungen eine Altersrente in Höhe von durchschnittlich fast 1000 Euro, also immer noch mehr als die Dissidenten.
Berechtigte Ansprüche
Bei der Entscheidung, wer als Gegner des kommunistischen Regimes Anspruch auf eine höhere Rente hat und wem die Rente gekürzt werden muss, spielt das Institut für das Studium totalitärer Regime (USTR) eine wichtige Rolle. Zu seinen Hauptaufgaben gehören die Verwaltung und der Zugang zu den Archiven der kommunistischen Staatssicherheit sowie die Veröffentlichung wissenschaftlicher Publikationen über die totalitäre Ära. Sie umfasst die Zeit vom Münchner Abkommen im September 1938 über die Nazi-Besatzung bis zum 17.11.1989 bzw. bis zur Errichtung einer demokratischen Regierung in den Wochen danach. Die Wahl des Dissidenten und Dramatikers Vaclav Havel zum tschechischen Präsidenten am 29.12.1989 gilt als wichtiger Wendepunkt.
"Die Repressionen des kommunistischen Regimes hatten einen großen Einfluss auf die Renten tschechischer Dissidenten, da diese ihre Berufe nicht ausüben durften. Und die Zeit, in der sie ihre Haftstrafe verbüßten, wurde nicht auf ihre Rente angerechnet", erklärt der stellvertretende Direktor der USTR, Kamil Nedvedicky, der DW.
Ähnlich nachvollziehbar seien die Gründe, warum bei den höchsten kommunistischen Funktionären gekürzt wurde. "Die Renten dieser Menschen lagen deutlich über dem Durchschnitt, weil sie für ihre Beteiligung an der Unterdrückung belohnt wurden und ihr Einkommen über dem der Normalverdiener lag", so Nedvedicky.
Konecna: "Sanktionen gegen Kommunisten ungerecht"
Protest gegen das neue Rentengesetz kam dagegen von der außerparlamentarischen Kommunistischen Partei (KSCM) unter der Führung der Europaabgeordneten Katerina Konecna. "Ich halte das für eine reine Machtdemonstration nach 35 Jahren und für einen weiteren Teil des unfairen Vorgehens der derzeitigen Regierung gegenüber den Rentnern", sagte sie der DW.
Die dreiundvierzigjährige Politikerin gilt als das tschechische Pendant zur deutschen Politikerin Sahra Wagenknecht, die früher Mitglied der Linken war, inzwischen aber ihre eigene Partei gegründet hat. Auch Konecna verabschiedet sich allmählich vom postkommunistischen Label. Im Dezember 2023 formte sie aus der KSCM und anderen Gruppierungen das Bündnis Stacilo! (Es reicht!), mit dem sie im Juni 2024 bei der Europawahl antrat. Sie errang aus dem Stand fast zehn Prozent der tschechischen Wählerstimmen und damit zwei Sitze im Europäischen Parlament. Nach Einschätzung der meisten Beobachter wird das Bündnis im nächsten Jahr auch bei den Parlamentswahlen in Tschechien antreten.