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Politik

Haitis Qual der Wahl

19. November 2016

Abhängig und arm, zerstört und zerstritten: Nur wenige Wochen nach dem Wirbelsturm "Matthew" stehen in Haiti heute Präsidentschaftswahlen an. Kann sich das Land aus der Krise wählen?

Haiti Wahlsituation nach Hurrikan Matthew
Bild: Getty Images/AFP/H. Retamal

Bei den Wahlen heute in Haiti hat erstmals eine Frau Chancen, in den Regierungspalast in der Hauptstadt Port-au-Prince einzuziehen. Die Ärztin Maryse Narcisse, Kandidatin der Erdrutschbewegung "Famni Lavalas", liegt in den Umfragen für die 27 Kandidaten an vierter Stelle.

Angesichts der verheerenden Zerstörungen des Wirbelsturms "Matthew", der Anfang Oktober den Inselstaat verwüstete, ist den Einwohnern allerdings nicht sonderlich nach Wählen zumute. Nach Angaben des UN-Büros für Humanitäre Hilfe (Ocha) machte der Hurrikan rund 175.000 Einwohner obdachlos und forderte 573 Todesopfer.

1600 Schulen sind beschädigt oder total zerstört, 600.000 Kinder sind auf Hilfe angewiesen. Nach Angaben des Innenministeriums von Haiti sind insgesamt 2,1 Millionen Menschen von den Folgen des Sturms betroffen, das entspricht 19 Prozent der Bevölkerung. 750.000 Menschen bräuchten humanitäre Hilfe.

Hilfstransporte ausgesetzt

"Es wird erwartet, dass sich die humanitäre Versorgung in den kommenden sieben Tagen wegen der Wahlen erheblich verringert", heißt es im jüngsten Ocha-Bericht für Haiti. Es stünden weniger Lastwagen und weniger Sicherheitspersonal zur Verfügung, da diese für die Organisation der Wahlen gebraucht würden.

Eine Frau für Haiti? Gesundheitspolitikerin Maryse Narcisse wird von Ex-Präsident Aristide unterstütztBild: Getty Images/AFP/H. Retamal

Auch die 4971 internationalen Soldaten und Polizisten der UN-Stabilisierungsmission Minustah werden für die Wahlen gebraucht. Um die Sicherheit zu gewährleisten, stellt die UN-Mission zwischen dem 15. und 24. November die Flugverbindungen zu ihren Partnerorganisationen vorübergehend ein.

"Labor für Wiederaufbau"

Seit Jahrzehnten kämpft Haiti darum, sich aus dem Kreislauf von Armut und Elend zu befreien. Die ehemalige französische Kolonie ist zum Armenhaus der Region verkommen. Das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen beträgt 68 US-Dollar im Monat, das Land ist komplett von Hilfslieferungen aus dem Ausland abhängig. Die Mehrheit der Bevölkerung sieht ihre Zukunft nicht im eigenen Land, sondern in der Emigration.

Nach dem verheerenden Erdbeben im Januar 2010 träumte der ehemalige US-Präsident Bill Clinton davon, Haiti in ein "Labor für Wiederaufbau, Staatsbildung und internationale Kooperation" zu verwandeln. "Die Haitianer haben erstmals die Chance, ihrer eigenen Geschichte zu entfliehen", erklärte er damals als UN-Gesandter auf Haiti.

Spendenfluss versiegt

Clintons Vision: Haiti solle zum Aushängeschild für eine erfolgreiche Bekämpfung von struktureller Armut werden. Doch die Hoffnung erfüllte sich nicht. Auch die Spendenbereitschaft nimmt kontinuierlich ab. In den ersten Wochen nach dem Erdbeben 2010 flossen wöchentlich 70 Millionen US-Dollar Spendengelder nach Haiti. In den ersten vier Wochen nach dem Hurrikan sind gerade einmal 56 Millionen US-Dollar zusammengekommen.

Das verheerende Erdbeben 2010 zerstörte auch die mühsamen Versuche der UN-Mission, für ein Minimum an politischer Stabilität im Land zu sorgen. Der 2011 gewählte Staatspräsident Michel Martelly scheiterte nicht nur als Krisenmanager, er beendete seine Amtszeit am 7. Februar 2016 auch ohne einen rechtmäßig gewählten Nachfolger.

Zwar fanden die Präsidentschaftswahlen für die Nachfolge Martellys wie geplant im Oktober 2015 statt. Doch sie wurden im Nachhinein für ungültig erklärt, weil der an zweiter Stelle platzierte Kandidat Jude Celestin von der Alternativen Liga für haitianischen Fortschritt und Emanzipation (Lapeh) die Wahl anzweifelte und vor Gericht zog.

Favorit: Jovenel Moise, Kandidat der PHTK-Partei von Ex-Präsident Michelle Martelly, liegt in den Umfragen vorne Bild: Getty Images/AFP/H. Retamal

Erst ungültig, dann verschoben

Der neue Wahltermin wurde zweimal verschoben, zuletzt aufgrund der Folgen von Hurrikan "Matthew". Auch jetzt sind die Bedingungen im Land alles andere als ideal, doch der Übergangspräsident Jocelerme Privert hofft darauf, zumindest einen Ausweg aus der politischen Dauerkrise einleiten zu können.

Aussichtsreichster Kandidat für den Urnengang am 20. November ist Jovenel Moise, der für die Kahlkopfpartei von Ex-Präsident Michel Martelly antritt. Bei den Wahlen im Oktober 2015 erhielt er 32,8 Prozent der Stimmen. An zweiter Stelle in den Umfragen liegt Jude Celestin, der im Oktober vergangenen Jahres 25,3 Prozent der Stimmen bekam.  

Noch ist völlig offen, wer das Rennen macht. Tritt Maryse Narcisse, Ärztin und ehemalige Leiterin der Behörde für öffentliche Gesundheitsversorgung, das Erbe ihres Mentors, Ex-Präsident Jean-Bertrand Aristide, an? Oder setzt sich der Kandidat von Ex-Präsident und Popsänger Michel Martelly durch?

Es ist sehr wahrscheinlich, dass Haiti noch eine Weile ohne Präsident bleibt: Denn wenn keiner der 27 Kandidaten im ersten Wahlgang die Mehrheit von 50 Prozent erreicht, dann gibt es am  29. Januar 2017 eine Stichwahl  - schon wieder.

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