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Politik

Prozessauftakt zu Anschlag von Halle

Ben Knight phi/se
21. Juli 2020

Einer der schlimmsten antisemitischen Anschläge der deutschen Nachkriegsgeschichte wird vor dem Landgericht Magdeburg verhandelt. Dem angeklagten 28-Jährigen droht lebenslange Haft.

Prozessauftakt zu Anschlag von Halle
Unter hohen Sicherheitsvorkehrungen findet der Prozess gegen Stephan B. in Magdeburg statt Bild: picture-alliance/dpa/H. Schmidt

Stephan B. blieb ungerührt, als er am Dienstag in Magdeburg das Gericht betrat, ganz in schwarz gekleidet, vor Mund und Nase eine Einwegmaske. Aus antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven soll der 28-Jährige am 9. Oktober 2019 einen Mordanschlag auf die zum Jom-Kippur-Fest in der Synagoge von Halle versammelten Juden geplant haben. 

Der Prozess gegen den 28-Jährigen begann mit fast zwei Stunden Verspätung, da der Medienandrang groß war und beim Einlass streng kontrolliert wurde. Journalisten und Zuschauer füllten schließlich den großen Gerichtssaal mit niedriger Decke. Eine Glasscheibe trennt sie von Anwälten, Richtern und dem Angeklagten. Auch viele derjenigen, die während des Angriffs in der Synagoge ausharrten, waren nach Magdeburg gekommen. Insgesamt gibt es 43 Nebenkläger.

Gescheiterter Massenmord

Stephan B. ist wegen zweifachen Mordes – an der 40-jährigen Jana L. und dem 20-jährigen Kevin S. - sowie wegen Mordversuchs in 68 Fällen angeklagt. 52 Menschen waren in der Synagoge von Halle versammelt, als er auf die verschlossene Tür schoss, um in das Gebäude einzudringen. Erfolglos. Während seines insgesamt zweistündigen Fluchtversuchs schoss er auf eine Reihe weiterer Passanten und Polizisten. Er ist zudem wegen versuchter räuberische Erpressung mit Todesfolge und schwerer räuberische Erpressung angeklagt. Während seiner Flucht hatte der Attentäter mit vorgehaltener Waffe ein Taxi gestohlen. 

An dieser Tür hatte der Attentäter versucht, mit Gewalt in die Synagoge einzudringen Bild: Reuters/F. Bensch

Das Verfahren gegen ihn begann nach der Verlesung der Anklagepunkte mit einem längeren Austausch zwischen dem Angeklagten und der Richterin Ursula Mertens über die Vergangenheit von Stephan B.  Auf die Frage, ob er Freunde habe, antwortete er: "Nein." Gehörte er einem Sportverein an? "Nein." Welche Interessen hatte er? "Das Internet." Was ihm daran gefiel? Man könne sich frei unterhalten, so Stephan B. Hatte er diese Möglichkeit nicht auch in der realen Welt? "Nicht in Deutschland", sagt der Angeklagte. Sein Vorbild: der Attentäter von Christchurch.

Rassismus auch vor Gericht

Zu seiner Schwester habe er ein gutes Verhältnis, auch wenn der soziale Kontakte mit der Zeit stetig abgenommen habe. Auf die Frage der Richterin, warum diese Kontakte nachgelassen hätten, antwortete er, wie schon auf andere Fragen zuvor: dies sei nicht wichtig. Stephan B. sagte, er habe sechs Monate bei der Bundeswehr verbracht, die jedoch "keine richtige Armee" sei. Wenn er konnte, fuhr er an den Wochenenden nach Hause.  

Dann schilderte er seinen kurzen Versuch, Chemie zu studieren. Er habe das Studium wegen einer Krankheit abgebrochen, auf die er nicht im Detail eingehen wollte. Ob er andere Pläne gehabt habe? Stephan B. lacht und verneint. "Nach 2015 habe ich entschieden, nichts mehr für diese Gesellschaft zu tun", fügte er hinzu. Da er sich auch rassistisch äußerte, erteilte die Richterin ihm eine Rüge und drohte ihm an, ihn vom Verfahren auszuschließen. Während seiner Aussage kicherte der Angeklagte wiederholt nervös, er schien jedoch bei klarem Verstand zu sein.

Versager mit Publikum

Während seiner langen Aussage erklärte Stephan B. auch, warum er Jana L., die Passantin vor der Synagoge, erschossen hat. Er spricht von einer "Kurzschlussreaktion", weil die Frau ihn "angeschnauzt" habe. "Hätte ich das nicht gemacht, hätten mich alle ausgelacht". Die Frau musste also sterben, weil B. vor seinem weltweiten Internetpublikum nicht als Versager gelten wollte.

Und Kevin S., der Kunde im Dönerladen? Den habe er für einen Moslem gehalten, als er ihn erschossen habe. Dass viele andere Menschen überlebten, ist wohl nur der Tatsache zu verdanken, das B.s Sprengsätze und seine Schusswaffen nicht richtig funktionierten.

Geständnis des Täters

Kaum ein Prozessbeobachter bezweifelt, dass Stephan B. für schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt wird. Er filmte den gesamten Überfall mit einer an seinem Helm befestigten Kamera und übertrug das Video live auf die Online-Plattform Twitch. Deshalb wird ihm laut Anklageschrift auch Volksverhetzung vorgeworfen.

Neun Monate nach dem Anschlag

04:22

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Stephan B. legte bereits kurz nach seiner Verhaftung ein Geständnis ab und zeigte keine Reue für seine Taten. Tatsächlich bedauerte er laut einer Untersuchung des forensischen Psychiaters Norbert Leygraf nur, dass sein eigentlicher Plan, in die Synagoge einzudringen und dort möglichst viele Juden zu töten, gescheitert war.

"Komplexe Persönlichkeitsstörung"

Leygrafs 100-seitiges Gutachten, über das "Der Spiegel" im Detail berichtet, ergab, dass Stephan B. eine "komplexe Persönlichkeitsstörung" mit einigen Merkmalen des Autismus hat, was seine strafrechtliche Verantwortung aber nicht beeinträchtigte. Offenbar emotionslos hat er über seine beiden Morde gesprochen.

Strenge Kontrollen am Eingang zum Verhandlungssaal Bild: picture-alliance/dpa/H. Schmidt

Der Psychiater, der den Angeklagten dreimal befragte, stellte auch fest, dass dieser seit Jahren von antisemitischen Verschwörungstheorien und selbst gebauten Waffen besessen war. Sein Verteidiger, Hans-Dieter Weber, beschrieb Stephan B. als intelligent, wortgewandt und sozial isoliert.

"Keine Bühne dem Täter"

Vor dem Gerichtsgebäude in Magdeburg haben sich Menschen aus Solidarität mit Betroffenen, Hinterbliebenen und Opfern versammelt. Die Kundgebung unter dem Motto "Solidarität mit den Betroffenen - keine Bühne dem Täter" soll den Nebenklägern zeigen, dass sie nicht alleine stehen, wie die Veranstalter, darunter der Arbeitskreis Antirassismus Magdeburg, deutlich machten.

Demonstranten vor dem Gerichtsgebäude erinnern an Opfer rechter Gewalt in DeutschlandBild: DW/T. Sparrow

Die 43 zugelassenen Nebenkläger hoffen vor allem darauf, dass während des Verfahrens in Magdeburg, der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts, die Hintergründe der Gewalttat des 28-jährigen Angeklagten aufgeklärt werden. Insbesondere hoffen sie auf Antworten auf die Frage: Wie konnte sich Stephan B. so radikalisieren? Wie habe jemand so viel Hass entwickeln können "auf die Menschen, die er gar nicht kennt", fragte Juri Goldstein, Anwalt von Besuchern der Jüdischen Gemeinde in Halle. Nebenklägerin Christina Feist erklärte, es gebe einen alltäglichen Antisemitismus in Deutschland. Sie forderte Zivilcourage. Es sei allerhöchste Zeit, "dass wir diese schamvolle Wahrheit endlich anerkennen", sagte sie in Magdeburg. Sie war am Tag des Anschlags selbst in der Synagoge.

Vor dem Gerichtsgebäude wird der Opfer des Attentats gedachtBild: DW/T. Sparrow

Religionsvertreter verlangten kurz vor Prozessbeginn eine harte Strafe für den geständigen Attentäter von Halle. "Der Mann sollte mit der ganzen Härte des Gesetzes bestraft werden", sagte die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch. Zugleich plädierte sie für mehr Demokratiebildung in Schulen und Kindergärten. Der Präsident des Zentralrates, Josef Schuster, rief dazu auf, vor allem Kinder und Jugendliche besser über das Judentum aufzuklären und so Antisemitismus vorzubeugen. Antisemitismus sei nicht mehr, sondern eher sichtbarer geworden, sagte er im SWR.

Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, betonte, er erwarte ebenfalls ein "hartes und wegweisendes" Urteil. "Es sollte deutlich machen, dass Rassismus keine Meinung ist - sondern im schlimmsten Fall tötet", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Ich wünsche mir dies auch als ein Signal an die Minderheiten und vielfältigen, friedlichen Gruppen in Deutschland." Ein Urteil gegen den geständigen Attentäter von Halle ist frühestens im Oktober zu erwarten.

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