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Politik

Halle: der vernetzte "Einzeltäter"

10. Oktober 2019

Der tatverdächtige Todesschütze von Halle soll nach dem jetzigen Stand der Ermittlungen als Einzeltäter gehandelt haben. Doch "einsame Wölfe" sind nicht isoliert.

Handgranate mit dem Schriftzug extrem und Deutschlandfahne (Aufmacher)
Bild: picture-alliance/Blickwinkel/McPHOTO/C. Ohde

Stephan B., der 27-jährige tatverdächtige Attentäter von Halle, hat mit seiner Helmkamera dokumentiert, dass er als vermeintlicher Einzeltäter unterwegs war. Rund 35 Minuten übertrug er seine Tat live über die Game-Streaming-Plattform "Twitch", die zum Amazon-Konzern gehört. Die Deutsche Welle hat eine Kopie des inzwischen gelöschten Videos gesehen. Darin lässt Stephan B. klar und ohne Zweifel erkennen, dass er unbedingt morden will. Juden. Ausländer. Frauen. Gleich zu Beginn des Videos leugnet er den Holocaust. Mal spricht er englisch, mal deutsch. Seine Sprache ist fremdenfeindlich, antisemitisch und rassistisch. Wenn er deutsch spricht, benutzt er Schimpfwörter, die unter deutschen Neonazis üblich sind.

Mutmaßlicher Einzeltäter im Mordrausch

Er atmet schwer, er rennt, er flucht über die Ladehemmungen seiner selbstgebauten Waffen und Sprengsätze und entschuldigt sich auf Englisch bei seinem vermeintlichen Publikum, dass er nicht mehr Menschen tötet. Als es ihm nicht gelingt, in die vollbesetzte Synagoge von Halle einzudringen, sucht er sich in der Nähe andere Ziele. Erst auf offener Straße, dann in einem türkischen Döner-Imbiss. Das Flehen seiner Opfer lässt ihn kalt. Er ist im Mordrausch. Er kehrt noch einmal an die Tatorte zurück, um sicherzustellen, dass die getroffene Frau und der getroffene Mann tot sind.

Stephan B. agiert teilweise fahrig, doch wie er vorgeht, erinnert an zwei andere rechtsradikale Täter: an Anders Breivik, der am 22. Juli 2011 in Norwegen 77 Menschen ermordete - überwiegend Jugendliche eines sozialdemokratischen Feriencamps. Und an den Attentäter von Christchurch, der am 15. März in Neuseeland zwei Moscheen angriff und 51 Menschen erschoss. Wie Stephan B. hinterließen die beiden schriftliche Dokumente im Netz, die sich sprachlich ähneln und auf das gleiche rechtsextreme Gedankengut zurückgreifen.

Terroristischer Einzeltäter?

Ob Stephan B. tatsächlich alleine gehandelt hat, mit wem er wann und wie intensiv in Kontakt stand, ob jemand in seine Pläne eingeweiht war, müssen die Ermittlungen zeigen. Auch bei den Gewalttaten der rechtsextremen Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) taten sich die deutschen Behörden schwer damit, das Ausmaß des rechtsextremen Terrornetzwerks auszuleuchten. Der NSU ermordete zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen und unternahm 43 Mordversuche. Der Prozess begann im Mai 2013, das Urteil gegen Beate Zschäpe, eine der Anführer, wurde im Juni 2018 gesprochen: lebenslange Haft. 

Vor der angegriffenen Synagoge in Halle an der Saale erinnern Kerzen und Blumen an die Opfer Bild: AFP/R. Hartmann

Sowohl Breivik als auch der Attentäter von Christchurch werden in den Medien regelmäßig als "lone wolf attackers" bezeichnet. Als einsame Terror-Wölfe, die unter keinem Kommando standen oder offen von einer Gruppe unterstützt wurden. Wissenschaftliche Studien deuten darauf hin, dass terroristische Einzeltäter vernetzt sind und sich mitteilen wollen. Kaum einer handelt spontan, die meisten planen ihre Tat über lange Zeiträume.

Das Internationale Zentrum für Terrorismusstudien der Pennsylvania State University (ICST) hat im Jahr 2013 die Profile von 119 terroristischen Einzeltätern analysiert, fast alle waren männlich. Bei rund zwei Dritteln der untersuchten Fälle war Familienangehörigen, Freunden oder Bekannten das Engagement des Täters für eine bestimmte extremistische Ideologie bewusst.

In 64 Prozent der Fälle waren sich Familien und Freunde "auch der Absicht des Einzelnen bewusst, sich an einer terroristischen Aktivität zu beteiligen, weil der Täter es ihnen mündlich mitgeteilt hatte".

Die meisten der untersuchten 119 Einzeltäter hatten sich "regelmäßig an einem erkennbaren und beobachtbaren Spektrum von Verhaltensweisen und Aktivitäten mit einer größeren Interessengruppe, sozialen Bewegung oder terroristischen Organisation beteiligt". 53 Prozent galten als sozial isoliert, 35 Prozent hatten regelmäßig virtuellen Kontakt mit Gleichgesinnten. 

Das rechte Netzwerk

Das Internet ist voll von extremistischen Online-Gemeinschaften, in denen isolierte Individuen auf Gleichgesinnte treffen können. Diese virtuellen Netzwerke sind real und gefährlich. Hier putschen sich Extremisten und Verschwörungstheoretiker gegenseitig auf, hier werden Gewaltfantasien ausgetauscht und durchgespielt, hier jubeln die Unterstützer der vermeintlichen Einzeltäter. Besonders beliebt sind Foren wie 8Chan, in die User Bilder und Kommentare einstellen. Eine Moderation des Betreibers findet kaum statt.

Auch über das Live-Streaming-Videoportal "Twitch", auf dem Stephan B. seinen Mordrausch hochlud, kommen Menschen miteinander in Berührung, die sich ohne das Netz vermutlich nie getroffen hätten. Auf "Twitch" treffen sich viele Gamer, die ihre Leidenschaft für Gewaltspiele ausleben wollen. Auch hier könnten mutmaßliche Einzeltäter auf einen vermeintlich legitimierenden Rahmen für Mord und Terror stoßen. Unter dem Strich: Die sozialen Netzwerke erlauben es mutmaßlichen Einzeltätern, sich über nationalstaatliche Grenzen hinweg offen auszutauschen. 

"Lone wolf attacker" wie Anders Breivik und der Attentäter von Christchurch waren Teil einer global vernetzten Gemeinschaft. Ob und wie intensiv das auf Stephan B. zutrifft, müssen die Ermittlung zeigen. 

Die Gesellschaft

Auch in Deutschland selbst handeln mutmaßliche Terroristen nicht im gesellschaftlichen Vakuum: Nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz hat sich die Zahl rechtsextremistischer und fremdenfeindlicher Gewalttaten in Deutschland zuletzt wieder erhöht: von 774 im Jahr 2017 auf 821 im vergangenen Jahr. Die Zahl der Gewalttaten mit antisemitischem Hintergrund erhöhte sich im gleichen Zeitraum sogar um mehr als 70 Prozent: von 28 im Jahr 2017 auf 48 im vergangenen Jahr.

Das ostdeutsche Bundesland Sachsen-Anhalt, aus dem der festgenommene Stephan B. stammt, ist besonders oft von rechtsextremistisch motivierter Kriminalität betroffen. 2017 gab es hier 101 rechte Gewalttaten, im vergangenen Jahr waren es 91.

Die rechtsnationalistische Alternative für Deutschland (AfD), in der viele die Nation über Blut und Boden definieren, sitzt inzwischen im Bundestag und in allen 16 Landtagen. Bei der jüngsten Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im Jahr 2016 wurde die AfD mit 24,3 Prozent zweitstärkste Kraft hinter der CDU von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die 32,5 Prozent erreichte. In diesem gesellschaftlichen Klima hat der mutmaßliche Einzeltäter Stephan B. operiert.

Mitarbeit: Naomi Conrad

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