Mit dem G20-Gipfel wollte die Kanzlerin Hamburg weltoffen zeigen. Stattdessen dominierten umstrittene Polizeieinsätze und gewaltsame Proteste die Schlagzeilen. Nun stehen die ersten Demonstranten vor Gericht.
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Sechs Silvesterkracher, eine Dose Pfefferspray, eine Taucherbrille und zwei Glasmurmeln soll Stanislaw B. aus Polen in seinem Rucksack gehabt haben, als ihn die Polizei am 8. Juli vor dem Hamburger Bahnhof Dammtor anhielt und durchsuchte. Die Beamten stellten die Objekte sicher und nahmen ihren Besitzer fest.
Bis zur Demonstration "G20 not welcome: Grenzenlose Solidarität statt G20" schaffte Stanislaw B. es also gar nicht. Ihm werden keine Plünderungen, kein Angriff auf Polizisten oder keine sonstigen Gewalttaten vorgeworfen. Dennoch sitzt der 24-jährige Student aus Warschau seither in Untersuchungshaft.
Am Dienstag steht er vor Gericht - wegen eines Verstoßes gegen das Bewaffnungsverbot: "Es gibt bestimmte Gegenstände, die man ohne behördliche Erlaubnis gar nicht bei sich tragen darf. Dinge, die unter das Waffengesetz und unter das Sprengstoffgesetz fallen", erklärt der Hamburger Oberstaatsanwalt Carsten Rinio. "Und dann gibt es Gegenstände - das ist eine Besonderheit der Strafvorschriften nach dem Versammlungsgesetz -, die man schon auf dem Weg zu einer Demonstration nicht bei sich tragen darf."
Umstrittene Untersuchungshaft
Ein klarer Fall? Ganz und gar nicht, meint Jonathan Burmeister, der Stanislaw B. als Rechtsanwalt vertritt. Er ist einer von mehreren Verteidigern, die der Hamburger Justiz vorwerfen, aus politischen Gründen heraus juristisch zweifelhafte Entscheidungen getroffen zu haben.
Böller und Pfefferspray, so Burmeister, hätte sein Mandant durchaus mitführen dürfen: "Das Problem war, dass sie in Polen gekauft wurden und deshalb nicht das in Deutschland erforderliche Zertifizierungssiegel trugen."
G20: Wasser, Rauch und Tränengas
Die Welt zu Gast in Hamburg - aber nicht alle finden das gut. Schon vor dem offiziellen Beginn der G20-Gespräche kam es in den Straßen zu Großdemonstrationen und gewalttätigen Auseinandersetzungen.
Bild: picture-alliance/NurPhoto/M. Luczniewski
Smoke on (behind) the water
Unter dem Motto "Welcome to hell" lieferten sich schon vor dem Start des Gipfels gewaltbereite Demonstranten und Sicherheitskräfte kleinere und größere Scharmützel. Bilanz der Polizei am Freitag: 76 verletzte Beamte.
Bild: Reuters TV
Auf dem Weg in die verbotene Zone
Tausende Sicherheitskräfte haben die Konferenzzone in der Hamburger Innenstadt weiträumig abgeriegelt. Die "rote Zone" ist tabu für Demonstranten. Durchbrüche werden dennoch immer wieder versucht. Inzwischen hat die Hamburger Polizei Unterstützung aus anderen Bundesländern angefordert.
Bild: Reuters/H. Hanschke
Feuer und Flamme gegen G20
Viel zu löschen hatten Hamburgs Feuerwehrmänner: In mehreren Straßen der Innenstadt wurden zuvor aufgetürmte Barrikaden in Brand gesetzt. Auch Autos wurden reihenweise entzündet.
Bild: Reuters/H. Hanschke
Polizeisport wider Willen
Aus Demonstrantensicht ist passiver Widerstand extrem effektiv. Er zwingt mindestens zwei Beamte, zusätzlich zu ihrer kiloschweren Ausrüstung Sitzblockierer wegzutragen.
Bild: Reuters/P. Kopczynski
Der grüne Protest
Top-Thema des Hamburger Gipfels ist der Klimawandel. Den in den Griff zu bekommen, hatten fast 200 Staaten erst vor zwei Jahren mit dem Pariser Vertrag verabredet. Inzwischen haben sich die USA aus der Verpflichtungserklärung verabschiedet. Trumps Amerika steht im Fokus der Hamburger Demonstranten.
Bild: Reuters/F. Bimmer
Trump mobilisiert die Straße
Er ist unbestritten der Magnet des Gipfels: US-Präsident Donald Trump. Er bietet den Demonstranten reichlich Angriffsfläche. Ob seine (Nicht-)Klimapolitik, sein populistischer Führungsstil oder seine Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik - Trump weckt Emotionen in Hamburg.
Bild: picture-alliance/AP Photo/C. Jones
Polizeieinsatz unverhältnismäßig?
1.000 Vermummte der autonomen linken Szene versuchten sich am Donnerstag (6.7.) unter die rund 12.000 friedlichen Demonstranten zu mischen. Ein Grund der Polizei, den Befehl zum Einsatz von Wasserwerfern zu geben. Die Hochdruck-Wasserstrahlen wirken wie eine Waffe, Verletzungen nicht ausgeschlossen. Die Diskussion läuft: War das verhältnismäßig?
Bild: REUTERS/P. Kopczynski
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Vor diesem Hintergrund wirke der nahezu sieben Wochen dauernde Freiheitsentzug, den die Hamburger Behörden anordneten, besonders fragwürdig: "Der einzige legale Grund für eine Untersuchungshaft ist, sicherzustellen, dass das Verfahren stattfindet. Und ich bin hundertprozentig sicher, dass das hier nicht der Grund war."
Ein unauffälliger Student
Die Befürchtung der Behörden, sein Mandant könnte sich seinem Gerichtsverfahren in Hamburg entziehen, hält Burmeister für einen Vorwand: "Wir haben den EU-Haftbefehl, damit kann man eine Festnahme in Polen beantragen und dann dauert es ein paar Stunden, bis der- oder diejenige verhaftet ist."
Doch dergleichen sei bei Stanislaw B. überhaupt nicht zu befürchten gewesen, behauptet sein Anwalt und zeichnet ein sehr behütetes Bild seines Mandanten: "Er hat dieses Jahr in England studiert, sein Vater ist Professor, seine Mutter arbeitet in einer Anwaltskanzlei." Zudem habe sein Mandant einen festen Wohnsitz in Warschau und sei bisher nicht polizeilich aufgefallen. "Es gibt definitiv keinen Grund anzunehmen, er wäre nicht zu seinem Gerichtstermin erschienen. Die Untersuchungshaft hat also eindeutig einen politischen Grund", schlussfolgert Burmeister.
Kai Wantzen, Sprecher des Oberlandesgerichts Hamburg, weist die Vorwürfe zurück: "Die Gerichte sind kein Spielball der Politik und entscheiden allein nach Recht und Gesetz", sagte er der Tageszeitung "taz". In dem Blatt wirft auch Burmeisters Anwaltskollege Lino Peters der Hamburger Justiz vor, sich im Zusammenhang mit den G20-Ausschreitungen politisch beeinflussen zu lassen.
Hartes Urteil
Stanislaw B. ist einer von 32 Beschuldigten, die im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G20-Gipfel festgenommen und in Untersuchungshaft festgehalten wurden. Zwei Drittel von ihnen sind ausländische Staatsbürger - zum Beispiel aus Frankreich, Spanien und Italien. "Die Hamburger Regierung hat entschieden, eine Botschaft an Ausländer zu senden, die zu Demonstrationen nach Deutschland kommen", sagt Burmeister.
Dies zeige auch die Untersuchungshaft des Niederländers Peike S., die Anwalt Burmeister für einen klaren Fall von Diskriminierung hält: "Juristisch gibt es keinen Grund, jemanden nach Hause gehen zu lassen oder nicht, weil er auf der einen oder anderen Seite der Grenze wohnt."
Im ersten Prozess zu den G20-Ausschreitungen verurteilte das Oberlandesgericht am Montag den 21-jährigen Peike S. zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft, weil er nach Überzeugung des Richters zwei Flaschen auf einen Polizisten geworfen hatte. Er soll sich auch seiner Festnahme widersetzt haben, indem er sich wie ein Embryo zusammenrollte und seine Muskeln anspannte. Die rund 40 Zuschauer - zumeist Unterstützer des Angeklagten - reagierten laut Prozessbeobachtern schockiert auf das Strafmaß, das zehn Monate über der Forderung der Staatsanwältin lag und nicht zur Bewährung ausgesetzt werden kann.
Drastische Vergleiche
Im Gegensatz zu dem verurteilten Niederländer sollte sein Mandant einen Freispruch bekommen, hofft Burmeister. Umso deutlicher sei, sagt der Verteidiger, dass er missbraucht wurde, um eine abschreckende Botschaft zu senden: Vier Wochen lang habe er zum Beispiel auf eine Kontaktlinsenflüssigkeit warten müssen, die er benötige, und seinen Verwandten und seinem Anwalt hätten die Behörden zeitweise Besuche verweigert. "Ich musste damit drohen, an die Presse zugehen oder einen Protest zu organisieren, damit sie seine Mutter zu ihm ließen", erzählt Burmeister.
Doch Oberstaatsanwalt Rinio will keine politischen Tendenzen oder Diskriminierung ausländischer Beschuldigten erkennen und verweist auf ähnliche Anklagen gegen deutsche Staatsangehörige.
Rechtsanwalt Burmeister reagiert alarmiert und zieht Parallelen zu unrühmlichen Praktiken in anderen Ländern: "Das sind Dinge, die Erdogan in der Türkei macht. Er lässt Mitarbeiter von Amnesty International oder Journalisten festnehmen. Darüber sind wir zu Recht erbost, aber gleichzeitig tun wir es in Hamburg. Und ich muss sagen, es ist eine Schande, dass so etwas in Deutschland passiert."
G20-Gipfel: Gegner gehören dazu
Sobald irgendwo Staats- und Regierungschefs zusammenkommen, sind Proteste nicht weit. Die Globalisierungskritiker machen ihrem Ärger seit jeher Luft - auch im Namen der Natur. Ein Rückblick.
Bild: picture-alliance/dpa/C. Sabrowsky
Der Anfang: Battle of Seattle
Fast 20 Jahre ist die "Schlacht von Seattle" (1999) her. Sie gilt als inoffizieller Beginn einer neuen Welle der globalisierungskritischen Bewegung in den USA. Die Konferenz der Wirtschafts- und Handelsminister der Welthandelsorganisation (WTO) konnte damals nicht wie geplant stattfinden: Es kam zu Auseinandersetzungen zwischen tausenden Globalisierungskritikern und der Polizei.
Bild: Getty Images/K.Stallknecht
Endlich vereint
Bei den Seattle-Protesten taten sich erstmals Arbeiterbewegung und Naturschützer zusammen. Ein Novum! Hand in Hand demonstrierten die beiden Parteien gegen die Welthandelsorganisation und gegen die negativen Auswirkungen der Globalisierung. Es gab zahlreiche Festnahmen - die Teamsters und Turtles hielten trotzdem zusammen.
Bild: Getty Images/AFP/J. G. Mabanglo
London: Carnival Against Capitalism
Einer der ersten international organisierten Anti-Globalisierungs-Proteste war der "Carnival against Capitalism" (J18) am 18. Juni 1999. Er fand zeitgleich zum G8-Gipfel in Köln statt. Vor allem in London und Eugene, im US-Bundestaat Oregon, ging die Post ab - mit demonstrativem Feiern.
Bild: picture-alliance/dpa
Genua: Eskalation und Wendepunkt
2001 demonstrierten tausende Menschen unter dem Motto "Eine andere Welt ist möglich" im italienischen Genua während des G8-Gipfels gegen Ressourcenverschwendung, Mangelernährung, die Schere zwischen Arm und Reich. Leider ganz und gar nicht friedlich. Die Proteste waren der Beginn einer neuen Protest-Ära - mit Tränengas, brennenden Autos und Molotowcocktails.
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Von nun an wird's ernst
20.000 Polizisten versuchten die Demonstranten unter Kontrolle zu halten. Vergeblich. Die traurige Bilanz: unzählige Verletzte, ein Toter. Der Italiener Carlo Giuliani wurde bei einer Straßenschlacht erschossen. Seitdem gilt der Grundsatz, für G8/G20-Gipfel einen Ort zu wählen, der möglichst abgelegen ist und sich gut absichern lässt.
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Garmisch-Partenkirchen: ruhig und abgelegen
2015 fand der G7-Gipfel auf Schloss Elmau in Bayern statt. Vor und während des Gipfeltreffens gab es massive Sicherheitsvorkehrungen: Gullideckel wurden zugeschweißt, Briefkästen abmontiert. Der Veranstaltungsort lag auf tausend Metern geographisch unzugänglich. Die befürchteten gewalttätigen Proteste? Es gab sie nicht. Das luxuriöse Umfeld sorgte trotzdem für herbe Kritik.
Bild: imago
Heimlicher Klimagipfel
Die Regierungschefs der G7-Staaten nahmen sich in Elmau überraschend vielen Umweltthemen an, etwa dem Meeresschutz. Sie vereinbarten, "noch wirksamer und intensiver an der Bekämpfung der Meeresvermüllung" zu arbeiten und beschlossen einen Aktionsplan. Umweltverbände vermissten jedoch eine strengere Verpflichtung zur Müllvermeidung.
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Hamburg: eine gewaltige Mischung?
Dass der G20-Gipfel 2017 wieder inmitten einer Stadt, in Hamburgs Schanzenviertel, stattfindet, ist mutig. 20.000 Beamte sollen dabei für Sicherheit sorgen. Der Veranstaltungsort sei gewählt worden, um an Hamburgs Rolle als "Tor zur Welt" zu erinnern. Ob die Aktivisten da auch ihre Zelte aufschlagen dürfen? Sie tun es einfach.
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Der Alternativgipfel
"Die G20 verteidigt ein System, das die soziale Ungleichheit auf die Spitze treibt," so die Macher des "Gipfels der globalen Solidarität". Er findet kurz vor dem G20-Treffen in Hamburg statt. Hier suchen Kapitalismuskritiker und Umweltaktivisten nach Alternativen zur G20-Politik. Denn die kann aus ihrer Sicht die großen Probleme der Welt wie Klimawandel, Kriege und Hunger nicht lösen.
Bild: picture-alliance/dpa/C. Sabrowsky
Taten folgen lassen
In Hamburg ist die Protestwelle indes schon losgerollt. Der chinesische Kohlefrachter "Golden Opportunity" bekam sie noch vor dem Anlegen im Hafen zu spüren. Greenpeace-Aktivisten jagten mit dem Schlauchboot neben dem Frachter her und hielten Banner hoch. Auf die Bordwand sprühten sie "End Coal", bevor die Wasserschutzpolizei die Schlauchboote beschlagnahmte.