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KonflikteUkraine

Historiker Serhii Plokhy: "Die Ukraine will kein Opfer sein"

Danilo Bilek
12. Mai 2023

Putins Angriffskrieg hat die Wahrnehmung der Ukraine und Russlands im Westen verändert. Auch die Ukraine wandelt sich. Das Land erkämpft sich seinen Platz in Europa, sagt Historiker Serhii Plokhy im DW-Interview.

Ein Mehrfachraketenwerfer der ukrainischen Armee feuert auf russische Stellungen
Gegenwehr: Ein Mehrfachraketenwerfer der ukrainischen Armee feuert auf russische StellungenBild: Libkos/AP/dpa/picture alliance

Russlands Krieg gegen die Ukraine zieht große Aufmerksamkeit auf sich - auch unter Wissenschaftlern. Einer von ihnen ist der Historiker Serhii Plokhy. Der Professor für ukrainische Geschichte an der Harvard University in den USA publiziert international. Sein jüngstes Buch "Der Angriff" ist Anfang Mai in Deutschland erschienen. Es widmet sich den Folgen der umfassenden russischen Invasion der Ukraine im Jahr 2022. 

DW: Herr Plokhy, im deutschen Verlag Hoffmann und Campe ist Ihr Buch "Der Angriff" erschienen. Es befasst sich insbesondere damit, wie Russlands umfassender Krieg gegen die Ukraine die Weltordnung für die kommenden Jahrzehnte beeinflussen wird. Wie würden Sie diesen Einfluss beschreiben?

Serhii Plokhy: Dies ist der größte Krieg in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs, mit den massivsten Truppenstärken und schlimmsten Verbrechen, die seit 1945 in Europa begangen wurden. Sein Einfluss ist außerordentlich groß - nicht nur auf die Ukraine, nicht nur auf die gegenwärtigen und künftigen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland, sondern auch auf Europa und die Welt. Wir sehen, dass das transatlantische Bündnis zwischen den USA, Europa und Mittelosteuropa auf ein Niveau zurückkehrt, das es seit dem Ende des Kalten Krieges so nicht mehr gegeben hat. Der Krieg bedeutet faktisch, dass Grauzonen in Europa verschwinden, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion existierten.

Wir sehen eine Neuausrichtung Russlands nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich weg von Europa hin nach Osten, also eine politische und wirtschaftliche Neuorientierung nach China und Indien. Das ist nur die Spitze des Eisbergs - also was wir heute schon sehen. Das sind Tendenzen, die bereits begonnen haben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir auch noch andere Veränderungen erleben werden, die wir heute noch nicht erkennen.

"Eine Neuausrichtung Russlands": Serhii Plokhy ist Professor für ukrainische Geschichte an der Harvard UniversityBild: Tania D’Avignon

Russlands Angriff auf die Ukraine hat die Wahrnehmung der Ukraine und Russlands im Westen verändert. Was genau hat sich Ihrer Meinung nach geändert?

Die Ukraine erkämpft sich heute ihren Platz auf der Landkarte Europas. Bevor der umfassende Krieg begann, wurde viel darüber geredet, dass ein solcher Krieg beginnen könnte. Aber die Ukraine wurde ausschließlich als Opfer dieser Aggression wahrgenommen. Bis zu einem gewissen Grad bleibt die Ukraine auch ein Opfer dieser Aggression, denn der von Russland begonnene Krieg ist ein nicht provozierter Krieg. Aber die Ukraine wollte kein Opfer sein. Das heißt, die Ukraine kämpft und tut dies äußerst effektiv.

Faktisch ist dies historisch gesehen eine Eintrittskarte, um ein vollwertiges Mitglied der Europäischen Union und der internationalen Gemeinschaft insgesamt zu werden. Die Ukraine beweist der Welt, dass ihre Unabhängigkeit im Jahr 1991 kein Zufall war. Schon in den ersten Kriegswochen hat die Ukraine gezeigt, dass sie auf der Landkarte Europas bleiben wird.

Was kann man über Russland sagen?

Es gibt natürlich eine erhebliche Schwächung Russlands. In der Ukraine erzählt man folgenden Witz: Russland prahlt damit, die zweitstärkste Armee der Welt zu haben, aber sie hat sich als zweitstärkste Armee in der Ukraine entpuppt. Das heißt, der Niedergang militärischer Macht und des Ansehens ist deutlich sichtbar. Zudem haben die Sanktionen und Ausgaben für diesen Krieg bereits ernste wirtschaftliche Konsequenzen. Wenn das so weitergeht, wird Russland höchstwahrscheinlich, was Prestige, Wirtschaft und militärische Macht angeht, extrem geschwächt aus diesem Krieg hervorgehen. Auch das ist ein äußerst wichtiger Faktor, nicht nur für Europa, sondern auch für ganz Eurasien.

Wie hat sich denn die Wahrnehmung Russlands im Westen in den vergangenen anderthalb Jahren verändert?

Russland wurde früher meist als ein Land wahrgenommen, das nur eine autoritäre Phase durchmacht, mit dem man aber Geschäfte machen, Handel treiben und politische Projekte umsetzen kann.

Heute wird Russland als ein Aggressorstaat betrachtet, als ein Land, dass sich international in einen Ausgestoßenen verwandelt hat. Es ist ein Land, an dessen Spitze mit Wladimir Putin ein Führer steht, der von internationalen strafrechtlichen Institutionen gesucht wird.

Das heißt, es ist eine dramatische Veränderung in der Wahrnehmung des Landes. Es genügt, sich die Zahl der russischen Diplomaten oder Spione anzusehen, die ausgewiesen werden. Dies ist nur ein Zeichen dafür, wie sehr das heutige Russland zu einem toxischen Element in der internationalen Gemeinschaft geworden ist.

Sie arbeiten in den USA, haben aber Ihr Buch in Deutschland vorgestellt. Worin unterscheiden sich die Diskurse über Russlands Angriffskrieg in diesen Ländern?

Sowohl die USA als auch Deutschland sind auf der Seite der Ukraine - nicht nur die politischen Eliten, sondern auch die Öffentlichkeit. Das ist ein extrem wichtiger Faktor. Aber der Weg beider Gesellschaften und Länder hin zu dieser Position war sehr unterschiedlich. In Europa und in Deutschland wird der Krieg viel näher empfunden als in den USA. Wir sehen in Deutschland mehr blau-gelbe ukrainische Flaggen als in den USA. Aber gleichzeitig hat die US-amerikanische politische Elite wirklich viel Führungsstärke und Führungsqualität bewiesen, als sie für die Unterstützung der Ukraine Position bezog.

In Deutschland, insbesondere in der deutschen Politik, erwies sich dieser Prozess als viel länger und schmerzvoller. Es vergingen Monate, ein halbes Jahr, vielleicht noch mehr, bis Deutschland einen Paradigmenwechsel nicht nur ankündigte, sondern auch begann, im Rahmen dieses Paradigmas zu handeln. Ich fürchte, dass diese Veränderung gar nicht eingetreten wäre, wenn die Ukraine nicht so effektiv Widerstand geleistet hätte. Außerdem bleibt das Maß der Aktivität unterschiedlich. Amerika führt nach wie vor zusammen mit Großbritannien, Polen und den baltischen Staaten eine Koalition an, während Deutschland sich mehr am Mainstream orientiert und keine Führungsrolle einnimmt.

"Der Angriff": Das Buch von Serhii Plokhy ist im deutschen Verlag Hoffmann und Campe erschienenBild: Plokhy

In einem Interview sagten Sie, Sie seien "extrem optimistisch", was die Zukunft der Ukraine angeht. Worauf gründet Ihr Optimismus?

Mein größter Optimismus hängt langfristig mit der Mobilisierung der ukrainischen Gesellschaft zusammen. Es gibt einen starken Austausch zwischen Gesellschaft und Staat, was in der ukrainischen Geschichte immer eine schwache Verbindung war und als etwas Fremdes wahrgenommen wurde. In der ukrainischen Gesellschaft herrscht heute insgesamt Optimismus. Es gibt das große Verlangen, den großen Wunsch, optimistisch an die Zukunft zu denken. Das heißt, die Menschen wollen darüber sprechen, wie die Ukraine nach dem Krieg aussehen wird, wie die Ukraine nicht nur wieder aufgebaut, sondern tatsächlich für die Zukunft gerüstet sein wird, um in einer neuen Welt zu bestehen.

Mein Optimismus spiegelt bis zu einem gewissen Grad jene optimistischen Tendenzen oder Stimmungen wider, die trotz aller Schrecken des Krieges in der Ukraine vorhanden sind.

Das Gespräch führte Danilo Bilek.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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