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Srebrenica-Überlebender: Erzählen im Namen der Toten

10. Juli 2025

Hasan Hasanovic verlor im Völkermord von Srebrenica seinen Zwillingsbruder und seinen Vater. Er selbst überlebte den Todesmarsch. Davon zu erzählen und andere Überlebende zu befragen, ist für ihn eine Lebensaufgabe.

Ein schwarzhaariger Mann, der ein blaues Hemd trägt, steht auf einer Wiese vor einem langgestreckten Gebäude
Hasan Hasanovic vor dem Museumsgebäude des Srebrenica MemorialBild: Keno Verseck/DW

Sechs Tage lang marschiert er durch die Wälder. Unter ständigem Beschuss, fast ohne Essen und Wasser, fast ohne zu schlafen. Im Chaos und Rennen um das eigene Leben nach einem Artillerieangriff verliert er am zweiten Tag seinen Vater und seinen Bruder aus den Augen. Er läuft mit wunden Füßen immer weiter. Geduckt im Gestrüpp sieht er, wie Soldaten auf flüchtende Menschen schießen, als ob sie Tiere jagen. Auf Lichtungen, Feldern und an einsehbaren Wegeskreuzungen robbt er durch den Hagel von Kugeln und Granaten. Er sieht Verwundete, denen er nicht helfen kann. Einmal, als er fast einschläft, stößt ihn ein Mann und sagt: "Wenn du jetzt schläfst, wird es für immer sein." Also rafft er sich auf.

Am Nachmittag des sechsten Tages erreicht er zusammen mit hunderten anderen von der bosnischen Armee kontrolliertes Gebiet. In einem kleinen Dorf empfangen die Bewohner sie mit Essen und Trinken. Später werden alle in ein Schulgebäude gebracht. Dort schläft er auf dem Fußboden ein und wacht erst am siebten Tag wieder auf.

Hasan Hasanovic, 49 Jahre, ist Überlebender des Völkermordes von Srebrencia im Juli 1995. Bis heute überkommt ihn ein Gefühl des Unbegreiflichen, wenn er vom sogenannten Todesmarsch von Srebrenica erzählt: dem Versuch tausender Männer und Jungen, ihrer Ermordung zu entgehen. "Der Todesmarsch war Wirklichkeit. Aber ich empfand ihn zugleich als völlig surreal", erinnert sich Hasan Hasanovic. Er war damals 19 Jahre alt. "Ich konnte nicht glauben, was passierte. Und ich konnte am Ende nicht fassen, dass ich überlebt hatte."

Menschenjagd in Ostbosnien

11. Juli 1995, Ostbosnien. Die Truppen des bosnisch-serbischen Armeeführers Ratko Mladic haben die Enklave und UN-Schutzzone Srebrenica erobert, in der sich 36.000 Menschen befinden, muslimische Bosniaken, fast alle Zivilisten, die seit Jahren eingekesselt waren. Es gibt kaum Zweifel, dass zumindest die Männer im wehrfähigen Alter im Falle einer Gefangennahme wohl ermordet werden. Deshalb entschließen sich die meisten von ihnen zu einem Fluchtversuch. Mit einem Marsch durch die Wälder wollen sie das von der bosnischen Armee kontrollierte Gebiet in der Gegend um die Stadt Tuzla erreichen, etwa 70 Kilometer nordwestlich.

Diesen menschlichen Schädel fanden Forensik-Experten 2002 in der Nähe von SrebrenicaBild: Demir/dpa/picture alliance

Um die 12.000 Männer formieren sich am Abend des 11. Juli 1995 zu einer kilometerlangen Kolonne und ziehen los. Durch das feindliche, teils verminte Gebiet, vorbei an Stellungen der bosnisch-serbischen Armee, sechs Tag lang unter permanentem Beschuss. Mladics Truppen vollführen eine beispiellose Menschenjagd. Nur etwa ein Drittel der Teilnehmer des Marsches erreicht lebend sicheres Gebiet. Später wird dieser Marsch deshalb heißen: der Todesmarsch von Srebrenica. Einer, der ihn überlebt, ist Hasan Hasanovic.

Videoarchiv mit Zeugnissen

Der 49-Jährige arbeitet heute im Srebrenica Memorial, der Gedenkstätte des Völkermordes im Ort Potocari, einige Kilometer nördlich von Srebrenica. Auf dem dortigen Friedhof sind die sterblichen Überreste von rund 7000 identifizierten der bisher 8372 namentlich bekannten Ermordeten von Srebrenica bestattet. Außerdem gibt es in den Hallen einer ehemaligen Batteriefabrik, wo einst die UNPROFOR-Truppen stationiert waren, ein großes Museum.

Hasan Hasanovic interviewt einen Überlebenden des Völkermordes von Srebrenica für das Video-Zeugenarchiv des Srebrenica MemorialBild: Keno Verseck/DW

Hasan Hasanovic hat früher Besuchergruppen durch das Museum geführt und seine Geschichte erzählt. Heute arbeitet er vor allem als Kurator von Ausstellungen und als Archivar. Sein wichtigstes Projekt ist ein Archiv mit Videoaufnahmen der Überlebenden des Völkermordes von Srebrenica, in denen diese ihre Geschichte erzählen - ein einzigartiges und das wohl wichtigste Zeugnis des Verbrechens. Es umfasst bisher etwa 700 Filme mit Interviews. Vergleichbar ist das Projekt mit Claude Lanzmanns berühmtem Film- und Audioarchiv der Shoah, das Teil des UNESCO-Weltdokumentenerbes ist.

Ein gewöhnlicher europäischer Jugendlicher

Wenn Hasan Hasanovic über sein Leben und sein Überleben spricht, dann sagt er, es sei ihm lange Zeit vorgekommen, als habe jemand anders das Drehbuch seines Lebens geschrieben und als müsse er es befolgen, ohne die Kontrolle darüber zu haben. Als der Krieg in Bosnien und Herzegowina im Frühjahr 1992 begann, war Hasanovic 16 Jahre alt, ein gewöhnlicher europäischer Jugendlicher, der sich vor allem für Musik und Fußball, weniger für Politik interessierte.

Blick auf die ostbosnische Kleinstadt Srebrenica heuteBild: Amel Emric/REUTERS

Seine Welt wurde mit Kriegsbeginn abrupt zerstört. Die Familie floh vor den ethnischen Säuberungen in Ostbosnien zunächst in die Wälder um Srebrenica und lebte in Erdlöchern und anderen Verstecken im Wald. Später zog sie in das Städtchen selbst, das zu einer Enklave für bosniakische Flüchtlinge wurde. Hasan lebte dort drei Jahre lang zwischen Bombenangriffen, lebensgefährlicher Nahrungssuche in Wäldern und improvisiertem Schulunterricht.

"Der Schmerz ist kaum zu ertragen"

Am 11. Juli 1995, als die Truppen Mladics in Srebrenica eingerückt waren, entschlossen sich sein Vater Aziz, sein Zwillingsbruder Husein und er selbst, mit auf jenen Marsch zu gehen, der dann als Todesmarsch bekannt wurde. Am 12. Juli 1995 sah Hasan seinen Vater und seinen Zwillingsbruder zum letzten Mal. Ihre sterblichen Überreste wurden Jahre später in Massengräbern gefunden.

Hasan Hasanovic am Grab seines Vaters und seines Zwillingsbruders auf dem Friedhof des Srebrenica Memorial in PotocariBild: Keno Verseck/DW

Hasan Hasanovic hat über das Leben und Überleben in Srebrenica ein Buch mit einem autobiographischen Bericht geschrieben. Darin sagt er: "Das Schlimmste ist der Schmerz, wenn ich darüber nachdenke, wie mein Bruder Husein und mein Vater Aziz umgebracht wurden: Wurden sie gefoltert, wie lange hat es gedauert, bis sie schließlich tot waren? Dieser Schmerz ist kaum zu ertragen."

Rückkehr nach Srebrenica

Nach seinem Überleben holte Hasan Hasanovic sein Abitur nach, anschließend studierte er Kriminologie und arbeitete als Übersetzer für die US-Armee, weil er gut Englisch sprach. Im Jahr 2003 konnte er in der Gedenkstätte in Potocari die sterblichen Überreste seines Bruders begraben, zwei Jahre später die seines Vaters. Im Jahr 2009 begann er selbst, in der Gedenkstätte zu arbeiten. Es sei ein langer, schmerzhafter Prozess gewesen, nach Srebrenica zurückzukehren und die Anwesenheit, die Arbeit dort auszuhalten, sagt Hasan Hasanovic.

Hasan Hasanovic schaut sich mit einem anderen Überlebenden des Völkermordes einen Videofilm mit dessen Zeugenaussage anBild: Keno Verseck/DW

"Die Erinnerungen jagen einen. Alles dort erinnert an den Völkermord und an das Überleben. Anfangs mussten wir mit Polizeischutz zu Begräbnissen fahren. Am Straßenrand standen serbische Nationalisten und zeigten mit den Fingern nationalistische Siegessymbole. Bis heute leben in Srebrenica Täter. Bei allen, die ein gewisses Alter haben, fragt man sich, was sie damals taten, ob sie dabei waren. Ich dachte viele Jahre lang, ich könnte höchstens zu Begräbnissen zurückkehren. Aber dann hatte ich das Gefühl, dass mein Vater und mein Bruder auf mich blicken. Dass sie von mir erwarten zu erzählen, weil sie selbst keine Stimme mehr haben. Ich fühlte mich ermutigt und ermächtigt zu erzählen."

Kein Opfer, sondern Überlebender

Wenn Hasan Hasanovic erzählt, dann ist seine Stimme weder anklagend noch erstickt vor Schmerz. Man sieht bei ihm keine Tränen, er wirkt nicht von Trauer überwältigt, man spürt bei ihm keine Wut und keinen Hass. Aber er mag die Worte Versöhnung und Aussöhnung nicht, die oft fallen, wenn er im Ausland auftritt und spricht, besonders in Deutschland. Er sagt, das seien Worte, die Streit implizieren. "Wir hatten mit niemandem Streit, und der Krieg bei uns war auch kein Bürgerkrieg. Es war ein Krieg, in dem wir vertrieben und vernichtet wurden. Es war ein Völkermord. Diese Geschichte müssen Serbien und die Serben aufarbeiten, und sie müssen den Völkermord anerkennen, statt ihn zu leugnen."

Hasan Hasanovic strahlt eine große Würde aus, wenn er über die Nuancen von Wörtern spricht. So wie überhaupt, wenn er die Geschichte seines Überlebens erzählt. Diese Würde ist sein Sieg über die Völkermörder, sein Sieg über das Böse. Er legt Wert darauf, dass man ihn nicht ein "Opfer des Völkermordes" nennt. Er sagt, Opfer seien die Ermordeten - er selbst aber bezeichne sich als Überlebenden. Dieses Wort sei wie ein Titel für ihn, der seine Aufgabe und seine Berufung in sich trage. Die Aufgabe zu erzählen. "Ich werde solange erzählen", sagt er, "wie ich die Kraft dazu habe".

Zum Weiterlesen: Hasan Hasanovic, Srebrenica überleben, Wallstein Verlag, Göttingen 2022