Hausaufgaben für die Startup-Nation
14. Mai 2018Auf den ersten Blick sieht alles ziemlich gut aus: Die israelische Wirtschaft wächst in diesem Jahr um geschätzte 3,3 Prozent, ausländische Direktinvestitionen von mehr als 100 Milliarden US-Dollar strömen ins Land und die Arbeitslosenquote betrug im März 2018 nach Angaben des Central Bureau of Statistics gerade einmal 3,6 Prozent. Damit war sie so niedrig wie zuletzt in den 1970er Jahren. Dass sich Israel nach Angaben der OECD mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von mehr als 38.428 US-Dollar pro Kopf im letzten Jahr sehen lassen kann, trägt natürlich zum gestiegenen Selbstbewusstsein bei. Schließlich rangierte Israel 2017 mit diesem Wert zwar hinter Ländern wie den USA und Deutschland, aber vor Südkorea und Spanien.
Nach wie vor glänzt das Land mit seiner Hightechbranche. Und immer wieder sorgen milliardenschwere Übernahmen israelischer Startups für Schlagzeilen, wie der Kauf von Mobileye durch den US-Chip-Riesen Intel für 15,3 Milliarden Dollar. Das israelische Unternehmen hatte zur Zeit der Übernahme im August 2017 zwar nur rund 600 Mitarbeiter, galt aber bereits damals im Bereich des Autonomen Fahrens mit seinen Fahrassistenz-Systemen als weltweit führend.
Karnit Flug hat gemischte Gefühle, wenn sich die Entscheidungsträger in Israels Regierung und Wirtschaft zu sehr auf den Erfolgen im Technologiebereich ausruhen. Die Chefin der Bank of Israel hat bereits mehrfach davor gewarnt, dass die Hightech-Branche als "wirtschaftliche Lokomotive des Landes altersschwache Eisenbahnwaggons zieht".
Im Schatten der Hightech-Erfolge
Denn was für viele Außenstehende nur schwer zu glauben ist, beklagen viele Israelis Tag für Tag: Obwohl sich die Einwohnerzahl des Landes seit Anfang der 1980er Jahre auf über 8,5 Millionen mehr als verdoppelt hat, hinkt die Infrastruktur des Landes hinterher. Jahrzehntelang wurde nur wenig in den Bildungsbereich investiert. Außerdem ist die soziale Ungleichheit immer größer geworden, sagt Professor Dan Ben-David, Wirtschaftswissenschaftler an der Shoresh Institution und der Tel-Aviv University im Gespräch mit der DW. "Die Armutsrate und Einkommensunterschiede in Israel gehören zu den höchsten in der entwickelten Welt. Bereits heute erreicht die Hälfte der israelischen Bevölkerung nicht einmal die unterste Stufe der Einkommenssteuer-Skala und zahlt überhaupt keine Einkommenssteuer. Fast 90 Prozent der gesamten Einkommenssteuereinnahmen Israels werden von gerade einmal 20 Prozent der Bevölkerung erwirtschaftet."
Und es kommt noch heftiger: Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern hinkt Israels Produktivität seit vier Jahrzehnten hinter der entwickelten Welt hinterher. Um den Bildungssektor sei es ähnlich schlecht bestellt, beklagt Ben-David: "Viele unserer Schulen sind auf dem Stand eines Entwicklungslandes und die Hälfte unserer Schüler gehen auf solche Schulen." Der Grund, warum nach wie vor israelische Universitäten mit ihrer Forschung weltweit führend sind, liege daran, dass das Land noch immer von den Investitionen und den Aufbauleistungen der Pioniergeneration aus den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit profitiere, so Ben-David.
Die Mieten in den Ballungsräumen um Tel Aviv oder Jerusalem sind für immer mehr Israelis fast unerschwinglich geworden. Und weil das Land so klein ist, kann man nicht einfach an die Peripherie ziehen und zum Arbeitsplatz pendeln. Denn Jahrzehnte lang wurde kaum in die Infrastruktur investiert. Und weil ein öffentlicher Schienen-Nahverkehr kaum existiert, sind die Straßen dementsprechend verstopft. Kein Wunder, dass die Navigations-App Waze, die den Verkehr in Echtzeit abbildet und 2013 von Google für rund 1,3 Milliarden Dollar geschluckt wurde, in Israel erfunden wurde.
Das Militär als Innovationslabor
Von den geschätzten 5000 Startups in Israel haben sich rund 300 auf IT-Sicherheitslösungen spezialisiert. Und viele Gründer von Cyber Security-Firmen wie Argus, Check Point oder Cyber Ark haben ihren dreijährigen Militärdienst bei der militärischen Eliteeinheit 8200 verbracht. Die tausende Soldaten starke und streng geheim operierende Hacker und Anti-Hackertruppe soll unter anderem hinter dem Stuxnet-Angriff auf die iranische Atomforschungs-Infrastruktur im Juni 2010 stecken.
Eine typisch israelische Geschichte ist auch die von Amitai Ziv, der während seiner Dienstzeit in der israelischen Armee Kampfpilot war. Nach seinem Wehrdienst studierte er Medizin und wurde Arzt. Durch seine Erfahrungen bei der Ausbildung im Flugsimulator kam er auf die Idee, auch für den medizinischen Bereich Ärzte und medizinisches Fachpersonal durch simulierte medizinische Notfälle zu schulen. "Allein in US-Krankenhäusern sterben jedes Jahr 100.000 Patienten durch falsche Behandlung, die Verabreichung falscher Medikamente oder ärztliche Kunstfehler", erklärt Amitai Ziv. Das seien Leben, die gerettet werden könnten, wenn es mehr Weiterbildung - etwa in medizinischen Simulationszentren - geben würde.
"Auf die Luftfahrt übertragen, bedeutet das, dass jeden Tag eine vollbesetzte Boeing 747 ins Meer stürzt, und das entspricht nur den Todesfällen in amerikanischen Krankenhäusern", fügt Ziv hinzu. Seine Gründung, das MSR - Israel Center for Medical Simulation, ist am Sheba Medical Center an Israels größtem Krankenhaus Tel Hashomer im Osten von Tel Aviv angesiedelt. Mittlerweile ist MSR über die Grenzen Israels hinaus eine bekannte Größe und trainiert neben Chirurgen und Kardiologen aus den USA auch Notärzte, OP-Personal oder Krankenschwestern aus den palästinensischen Gebieten, europäischen Ländern wie Italien oder afrikanischen Staaten wie Äthiopien oder Äquatorialguinea.
Leben von der Substanz
Dass Israel nach Regierungsangaben rund fünf Prozent seiner Wirtschaftsleistung in Forschung und Entwicklung steckt, sichert dem kleinen Land am Mittelmeer einen Spitzenplatz unter den OECD-Mitgliedsstaaten. Doch, wenn es nach Dan Ben-David geht, muss Israel langsam aber sicher die Ärmel hochkrempeln, damit es auch in Zukunft international mithalten kann. In den 1950er und 1960er Jahren sei Israel ein Land armer Einwanderer gewesen und doch seien dort Universitäten mit Forschungsinstituten gegründet und Straßen gebaut worden.
"1973 hatten wir sieben Unis mit führenden Forschungseinrichtungen. Seitdem sind über vier Jahrzehnte vergangen und die Bevölkerung ist mehr als zweieinhalb mal so groß wie damals. Das Land ist deutlich reicher, das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat sich mehr als verdoppelt. Und doch ist seitdem keine einzige zusätzliche Forschungsuniversität gegründet worden", kritisiert Ben-David.
Um den aktuell hohen Lebensstandard zu sichern, müsse dringend in den Bildungsbereich investiert werden, fordert der Wirtschaftswissenschaftler. "Forschungsuniversitäten sind der Schlüssel für unseren künftigen Wohlstand. Das ist etwas, das die Gründer Israels verstanden haben, aber es sieht so aus, dass die Regierenden in Israel diese Erkenntnis vergessen haben."