Migration: Heftige Vorwürfe gegen europäische Küstenwache
17. Juni 2024Griechische Grenzbeamte sollen Flüchtlinge von Land wieder auf See gebracht und dort ins Meer geworfen haben. Diese und ähnliche Vorwürfe erheben mutmaßliche Opfer und Zeugen der Vorfälle laut einer Recherche des britischen Nachrichtensenders BBC. Nach eigenen Angaben haben die Journalisten 15 Fälle analysiert, bei denen demnach 43 Menschen zu Tode gekommen sind. Das griechische Ministerium für Schifffahrt und Inselpolitik weist die Vorwürfe zurück. Es soll aber der BBC mitgeteilt haben, dass die Nationale Transparenzbehörde entsprechendes Videomaterial untersuchen werde.
Seit Jahren werden europäischen Grenzschutzbehörden immer wieder illegale Praktiken vorgeworfen - etwa Pushbacks, bei denen Menschen, wenn sie eine Staatsgrenze überschritten haben, gewaltsam oder unter Androhung von Gewalt zurückgeschickt werden, ohne dass sie Asyl beantragen können. Diese Praxis verstößt nach Ansicht zahlreicher Juristen gegen eine Reihe internationaler Gesetze, darunter die Genfer Flüchtlingskonvention, die Europäische Menschenrechtskonvention und EU-Recht. Ein Überblick.
Griechenland
Der Weg über die Türkei nach Griechenland ist eine der Hauptrouten, über die Menschen in die EU einwandern. Entsprechender Druck lastet auf den griechischen Grenzbehörden. Medien und Menschenrechtsorganisationen berichten immer wieder von zahlreichen Verstößen gegen das internationale Flüchtlingsrecht - sowohl in der Ägäis, dem Meer zwischen Griechenland und der Türkei, als auch an der Landgrenze der beiden Staaten. Offizielle Stellen reagieren unterschiedlich auf solche Vorwürfe: Mal schweigen sie, mal weisen sie die Vorwürfe zurück, mal kündigen sie Untersuchungen an.
Ein Beispiel: Vor ziemlich genau einem Jahr kenterte ein marodes Fischerboot mit mehr als 700 Migranten an Bord vor der griechischen Stadt Pylos. Asyl- und Menschenrechtsorganisationen werfen der griechischen Küstenwache vor, sie habe gewusst, dass das Schiff in Seenot war und habe es dennoch in italienische Gewässer schleppen wollen. Nur 104 Passagiere überlebten das Unglück.
Kroatien
Auch kroatische Grenzschützer werden beschuldigt, Migranten gewaltsam nach Bosnien-Herzegowina zurückzudrängen. In zahlreichen Fällen werfen die mutmaßlich Betroffenen den Beamten vor, sie zudem geschlagen, beraubt und gedemütigt zu haben. Kroatiens Regierung weißt solche Vorwürfe in der Regel kategorisch zurück.
Ungarn
Ganz anders geht die ungarische Regierung mit solchen Vorwürfen um: Sie gibt offen zu, dass sie die illegale Praxis unterstützt, Migranten gewaltsam über die Grenze nach Serbien abzuschieben, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, einen Asylantrag zu stellen.
Spanien
Nach Spanien gelangen Tausende Flüchtlinge pro Jahr über zwei Routen: von der Westküste Afrikas auf die Kanarischen Inseln und über Marokko in die beiden spanischen Exklaven an der afrikanischen Küste. Berichte deuten darauf hin, dass vor allem dort, in Ceuta und Melilla, Migranten von spanischem Boden aus gewaltsam nach Marokko abgeschoben werden, oft unter Missachtung internationalen Rechts. Hier sterben immer wieder Menschen, wenn größere Gruppen afrikanischer Geflüchteter versuchen, die mit einem Zaun gesicherte Grenze regelrecht zu stürmen.
Italien
Der Weg nach Italien - beziehungsweise auf die nahe der nordafrikanischen Küste italienische Insel Lampedusa - ist derzeit die wichtigste Migrationsroute. Auch die italienischen Grenzbehörden stehen in der Kritik: wegen der harten Behandlung von Migranten, der schlechten Bedingungen in Auffanglagern auf Lampedusa und der eiligen Rückführung von Geflüchteten, die oft ohne angemessene juristische Prüfung erfolge. Zudem werfen Menschenrechtsorganisationen Italien vor, Hilfsorganisationen und ihre Mitarbeiter zu kriminalisieren, zum Beispiel Seenotretter im Mittelmeer. Die rechte Regierung hat im Frühjahr 2023 wegen der großen Anzahl neu ankommender Flüchtlinge einen sechsmonatigen Notstand ausgerufen.
Frontex (Europäische Union)
Die Agentur der Europäischen Union für die Grenz- und Küstenwache, Frontex, hat die Aufgabe, die Außengrenzen des Schengen-Raums zu überwachen - also des Teils der EU, in dessen Innern keine regelmäßigen Grenzkontrollen stattfinden. Vorwürfe über illegale Pushbacks durch Frontex gibt es mindestens seit 2009. Damals soll die EU-Küstenwache Flüchtlingsboote im Atlantik aufgebracht und in den Senegal geschickt haben. Auch im Mittelmeer sollen Frontex-Mitarbeiter Geflüchtete auf seeuntüchtigen Booten zur Umkehr gezwungen und auf hoher See im Stich gelassen haben.
Hinzu kommen regelmäßige Vorwürfe, dass Frontex auch Menschenrechtsverletzungen nationaler Grenzschutzbehörden dulde. Unter Berufung auf interne Dokumente berichteten 2019 mehrere Medien, dass Frontex-Beamte auch selbst Straftaten begingen. Insbesondere in der Ägäis und an der Landgrenze Türkei-Griechenland sollen Flüchtende unter Frontex-Beteiligung zurückdrängt und misshandelt worden sein.
Die EU-Kommission weist alle pauschalen Vorwürfe gegen Frontex zurück. Falls Mitarbeitende sich nicht an die Regeln hielten, werde das verfolgt. Für die Strafverfolgung seien die Mitgliedsstaaten zuständig.
Anfang 2021 wurde bekannt, dass neben dem Frontex-Verwaltungsrat auch die EU-Korruptionsbehörde OLAF gegen Frontex-Mitarbeiter ermittelte. Dabei ging es nicht nur um die Taten selbst, sondern auch ihre Vertuschung in der Behörde. Im April 2022 trat der damalige Frontex-Direktor Fabrice Leggeri unter anderem wegen dieser Vorwürfe zurück. Forderungen nach einer grundlegenden Reform der Grenzschutzagentur wurden laut, doch die Vorwürfe reißen bis heute nicht ab. Jüngst wurde bekannt, dass EU-Mitgliedstaaten kritisiert haben, dass der geplante Ausbau der Behörde auf 10.000 Einsatzkräfte nicht vorankomme und auch eine neue Elite-Einheit nicht effektiv einsetzbar sei.