Heilmittel gegen das Demokratiedefizit der EU?
9. Juni 2005Die mehrheitliche Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden waren für die Eliten in den europäischen Hauptstädten ein harter Schlag - ganz wie es viele Wähler beabsichtigt hatten. Der Verfassungsentwurf, den man über mehrere Jahre hinweg mit großer Mühe zusammengezimmert hatte, erlitt eine Niederlage in zwei Gründerstaaten: 55 Prozent der Franzosen sagte "Non" und sogar 61 Prozent der Niederländer votierte "Nee".
Für viele Wähler waren die Referenden eine Möglichkeit, um ihren Unmut über die EU-Bürokratie auszudrücken, die sie als selbstherrlich empfinden und taub für die Sorgen und Bedürfnisse der einfachen Bürger. "Niemand scheint Verantwortung zu übernehmen und niemand scheint uns zuzuhören", sagte der 41-jährige Chauffeur Iwan Amier der Nachrichtenagentur Reuters. Er habe deshalb gegen die Verfassung gestimmt, um den Politikern zu sagen, dass es ihn gebe und dass er über die weitere europäische Integration mitbestimmen wolle.
Denkzettel für EU-Politiker und Brüsseler Bürokraten
Für Carsten Berg von der Initiative "democracy international", die in Brüssel für Referenden wirbt, steht fest: Die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden haben den europäischen Eliten einen Denkzettel verpasst. "Denen in Brüssel, die glauben, dass bei der europäischen Integration alles schön und gut ist, haben die Wähler gezeigt, dass viele in der Bevölkerung anderer Meinung sind."
Analysen der Abstimmung in Frankreich zeigen jedoch, dass es nicht nur um die EU-Verfassung ging sondern auch um nationale Themen. Viele Wähler machten sich überhaupt nicht die Mühe, in den Verfassungstext zu schauen. Deshalb bezweifelt Marco Incerti vom Zentrum für Politische Studien in Brüssel, ob eine Volksabstimmung über das Papier eine so gute Idee war. "Wenn man sich die Argumente der Befürworter und Gegner in der Wahlkampagne anschaut, dann hatten viele nur sehr wenig mit der Verfassung selbst zu tun. Die Bürger sahen hier vielmehr eine Gelegenheit, um gegen ihre Regierung zu protestieren."
Hinzu komme, dass populistische Oppositionspolitiker gezielt Fehlinformationen gestreut hätten, um innenpolitisch zu punkten, so Incerti. "Es ist zwar eine gute Sache, wenn die Wähler ihr Recht zu entscheiden ausüben. Aber es ist nicht sehr ermutigend, dass einige auf der Grundlage von falschen Informationen ihre Stimme abgegeben haben. Wir müssen mehr Informationen an die Wähler geben, wenn wir wollen, dass Referenden so ablaufen, wie sie ablaufen sollten."
Stopp des Ratifizierungsprozesses?
Unklar ist, ob der Ratifizierungsprozess nach dem doppelten Nein in Frankreich und den Niederlanden weiter gehen wird. Diese Frage wird die Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel Mitte Juni in Brüssel beschäftigen. Die britische Regierung hat Anfang dieser Woche angekündigt, dass sie nur dann die geplante Volksabstimmung abhalten wolle, wenn klar sei, dass die Verfassung eine reale Chance habe.
Solch eine Entscheidung trage nicht dazu bei, das häufig kritisierte Demokratiedefizit in der Europäischen Union zu verringern, kritisiert Referendumsbefürworter Carsten Berg. Selbst wenn es in den übrigen Ländern, wo noch Volksabstimmungen geplant seien, derzeit nach einem "Nein" aussehe, sollte man das Votum der Bürger hören wollen. "Es wäre unfair, wenn nur die Niederländer und Franzosen abstimmen dürften - im Namen der anderen Europäer", sagt er.
Domino-Effekt hat sich umgekehrt
In Brüssel hatte man sich einen Domino-Effekt bei den Volksabstimmungen erhofft: Die Länder, wo man fest mit einem "Ja" gerechnet hatte, hielten zuerst Referenden ab, um die Wähler in den anderen Staaten ebenfalls zu einem "Ja" zu ermutigen. Doch dieser Effekt werde sich nun umkehren, befürchtet Berg: "Es ist schief gegangen – die Dominos sind in die andere Richtung gefallen."
Die Verfassung tritt erst in Kraft, wenn wirklich alle 25 EU-Mitglieder ratifiziert haben. Und so gibt es viel Kopfzerbrechen in den Ländern, wo noch Volksabstimmungen geplant sind, und es herrscht weiter Ratlosigkeit in Frankreich und den Niederlanden. Denn das "Nein" in beiden Ländern wiegt deshalb besonders schwer, weil die Wahlbeteiligung so hoch lag. "Demokratie ist nicht immer schön", sagt Berg, "und sie läuft nicht immer in die Richtung, die die Politiker und Bürokraten im Sinn haben." Dennoch täten Referenden der Demokratiekultur in Europa gut, so Berg. Und es sei äußerst unwahrscheinlich, dass die Europäer letztlich gegen das gesamte Projekt Europäische Union stimmen würden.