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Von Rütli bis Kalk

10. August 2009

Immer mehr junge Deutsche bekennen sich. Zumindest zu ihrem Stadtteil. Sie laufen Werbung für "SO 36" in Berlin oder "St. Pauli" in Hamburg. T-Shirts mit Heimat-Bezug. Wird hier Zusammenhalt suggeriert?

T-Shirt zur Identifikation mit einem Stadtteil: Junge Frau trägt rosa T-shirt mit Rütli-Aufdruck (Foto: Rütli-Wear)
Bild: Rütli-Wear

Rütli – diese fünf Buchstaben wurden im Frühjahr 2006 bundesweit zum Synonym für Jugendgewalt und Versagen des Bildungssystems. Gegen dieses miese Image wehren sich Schüler der Rütli-Schule im Berliner Bezirk Neukölln – und zwar mit einer Modekollektion. Sie tragen T-Shirts mit diesen fünf verrufenen Buchstaben: R-Ü-T-L-I, Rütli. Einige tragen ihr Rütli auch auf Arabisch zur Schau. Dieses T-Shirt ist aber längst auch jenseits der Einwanderer- und Schüler-Milieus beliebt. Immer mehr Hipster in Neukölln tragen es in rosa, blau, braun, egal welche Farbe. Hauptsache, es prangt ein "Rütli" auf der Brust. Tom Hansing hat "Rütli-Wear" erfunden. Das ehrgeizige Ziel seines Projekts: "Rütli soll irgendwann andere Assoziationen wecken als die von Schülern, die nichts anderes können als schlagen und pöbeln".

Heimat, halt’s Maul

Bild: www.ruetli.biz

Neukölln ist ein Berliner Stadtteil, in dem viele keine Arbeit haben. Es gibt aber auch eine Parallel-Entwicklung: Neukölln mit seiner Rütli-Schule wird zurzeit erobert von jener Karawane der Künstler und Designer. Überall blühen zarte Pflänzchen, und aus einem verrufenen Stadtteil wird ein angesagter 'Kiez', wie die Berliner sagen. Und so gilt es womöglich als cool, sich zum Schmuddel-Rütli-Image zu bekennen. Natürlich ironisch gebrochen. Eine ähnliche Entwicklung hat auch der Berliner Bezirk Kreuzberg in den vergangenen Jahren durchgemacht.

Bild: spreadshirt.net

In der Rapper-Szene hat alles angefangen

"Das ist ein bewusster Schritt", sagt Tobias Huber von Spreadshirt Deutschland. "Wer so ein T-Shirt trägt, will auf etwas stolz sein, worauf andere nicht stolz wären". Er muss es wissen. Bei Spreadshirt können Designer ihre Entwürfe in einem eigenen Shop anbieten. Die Online-Plattform organisiert den Druck der Shirts sowie die Logistik. Stadtteil-T-Shirts boomen, sagt Tobias Huber. "Wenn man sonst nichts hat, womit man sich identifizieren kann, dann identifiziert man sich wenigstens mit seinem Viertel". Begonnen habe alles in den USA, vor allem in Los Angeles und New York – und zwar in der Rapper-Szene.

Von dort sei der Trend nach Deutschland geschwappt. Es sei schon paradox, räumt Huber von Spreadshirt ein. "Viele Jugendliche bekommen Probleme, wenn sie in einer Bewerbung offen legen, aus welchem Stadtteil sie kommen. Weil das deprimiert, tragen sie trotzig ihr Viertel auf dem T-Shirt zur Schau". Seit die digitale Bohème und andere Kreative in diese Problemviertel ziehen, tragen auch sie diese T-Shirts.

Ein Problem-Viertel auf dem Vormarsch: Die Gegend um die U-Bahn-Haltestelle "Kalk-Post"Bild: spreadshirt.net

Etwa die Frauen und Männer im "Büro für Brauchbarkeit" in Köln. Das "Büro für Brauchbarkeit" ist eine wilde Mischung junger Freiberufler aus den Bereichen Medien, Mode, Kunst und Design. Sie arbeiten in einem Ladenlokal "im noch wilderen Stadtteil Kalk", heißt es auf ihrer Webseite. Sie haben unter anderem ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Kalk-Post" entworfen. So heißt die Haltestelle direkt um die Ecke. Letztlich werten sie mit ihrem Entwurf das schwierige Viertel auf. Und das ist auch ihr Ziel.

"Schäl Sick" im Wandel

"Die rechte Rheinseite, von den meisten Innenstadtbewohnern gemieden, ja fast schon gefürchtet, hat sich in den vergangenen zwei Jahren langsam aber spürbar weiterentwickelt", heißt es auf der Webseite des Büros für Brauchbarkeit.

Kalk in KölnBild: spreadshirt.net

Und auch auf der 'falschen', der rechten Rheinseite, der "Schäl Sick", orientiert man sich an großen Vorbildern: Berlin-Kreuzberg, New York Harlem, L.A. South Central und San Francisco Mission District. Dort "erkennt man das kreative Potential und das starke Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich in den Bewohnern solcher 'Ghettos' verbirgt," so das Büro für Brauchbarkeit.

Perlach in MünchenBild: spreadshirt.net

In den 80er Jahren trugen alternative Zeitgenossen Anti-Atomkraft-Buttons an der Latzhose oder klebten die Friedenstaube ans Auto; heute demonstrieren sie für München-Perlach. Offensichtlich gibt es ein Bedürfnis zusammenzurücken in all jenen Kiezen, Veedeln oder wie immer sie heißen. Es entsteht Community im Kleinen. Im allgemeinen Identitätszugehörigkeits-Wirrwar auf Facebook oder anderen social-media-Kontexten kann es womöglich beruhigend sein zu bekennen: Ich gehöre zu "St . Georg" oder zu "St. Pauli".

Und wem das alles zu heimattümelnd ist, der kann bei "linke-t-shirts" glücklich werden. Dieser Online-Shop "für revolutionäre Bekleidung und Accessoires" hat ein T-Shirt mit dem Aufdruck im Angebot: "Heimat, halt’s Maul".

Bild: linke-t-shirts.de

Autor: Andreas Main
Redaktion: Elena Singer

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