Heinrich Böll: "Die verlorene Ehre der Katharina Blum"
6. Oktober 2018Was wurde Heinrich Böll beschimpft: Er sei ein Sympathisant von Terroristen, rufe zu Gewalt auf, der Schriftsteller wurde sogar mit Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels verglichen. In einem Nachruf zu seinem Tod hieß es: "Dass er ein guter Mensch war, hat seinem literarischen Ruf geschadet."
Der engagierte Schriftsteller
Was Heinrich Böll tatsächlich war: die Symbolfigur eines engagierten Schriftstellers, der sich einmischte, das gesellschaftliche Geschehen kommentierte – und der die Bundesrepublik der Nachkriegszeit maßgeblich prägte. Zusammen mit Kollegen wie Günter Grass und Martin Walser galt Böll als moralische Instanz. Drei, die gegen das Schweigen über den Zweiten Weltkrieg anschrieben. Die die Rebellion der 68er-Generation begleiteten. Und die in der Folge die Motive der linken Terroristen verstehen wollten, einordneten oder – wie ihre Kritiker es nannten – "verharmlosten".
Die Rolle Heinrich Bölls und die Zeitumstände zu kennen, ist nicht unwichtig, um den Hintergrund und die Diskussion um sein bis heute erfolgreichstes literarisches Werk zu verstehen, die Erzählung "Die verlorene Ehre der Katharina Blum". Das Buch erschien 1974, zwei Jahre, nachdem Böll den Literaturnobelpreis erhalten hatte. Bis heute sind allein in Deutschland über vier Millionen Exemplare verkauft worden.
Ein Pamphlet gegen die Sensationsgier der Boulevardmedien
"Personen und Handlung dieser Erzählung sind frei erfunden. Sollten sich bei der Schilderung gewisser journalistischer Praktiken Ähnlichkeiten mit den Praktiken der Bild-Zeitung ergeben haben, so sind diese Ähnlichkeiten weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich",
schreibt Böll im Vorwort zu seiner Erzählung. Kurz zuvor waren er und seine Familie ins Visier von Terrorismusfahndern geraten – und anschließend vom größten deutschen Boulevardblatt, der "Bild"-Zeitung, fälschlicherweise der Gewaltverherrlichung und möglichen Mittäterschaft bei der Planung von Anschlägen beschuldigt worden.
Seine Erzählung versteht Heinrich Böll als "erzählerisch verkleidetes Pamphlet", wie er zehn Jahre nach der Erstausgabe in einem Nachwort erklärte, als Streitschrift über den Sensationsjournalismus der siebziger Jahre. Aber "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" ist viel mehr als das.
Katharina Blum – eine Rache-Fantasie?
Die Geschichte der jungen Katharina Blum ist angelegt wie ein Tatsachenbericht, nüchtern und zurückgenommen in der Sprache.
Böll beschreibt, wie eine bis dahin unbescholtene Frau zum Opfer der Boulevardpresse wird, weil sie eine Nacht mit einem Mann verbracht hat, der von der Polizei gesucht wird. Die "ZEITUNG", wie sie genannt wird, unterstellt, dass Katharina Blum kalt und berechnend sei, eine Terroristenbraut, die ihrem Liebhaber die Flucht ermöglicht hat, wissend, dass er des Mordes angeklagt ist. Immer mehr dringt ein schmieriger Reporter in das Privatleben der Frau ein, verunglimpft sie bei den Nachbarn, stellt sie bloß, um in der "ZEITUNG" wieder dreiste Lügen zu behaupten.
In der aufgeheizten Stimmung der siebziger Jahre führt das dazu, dass Katharina Blum obszöne, hasserfüllte Anrufe und Briefe erhält. Als ihre schwerkranke Mutter im Krankenhaus mit den Vorwürfen gegen ihre Tochter konfrontiert wird, stirbt sie – und Katharina tötet aus Wut und Verzweiflung den dafür verantwortlichen Reporter.
Man könnte "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" als Rache-Roman bezeichnen, als düstere Fantasie eines Schriftstellers, der sich selbst als Opfer einer Medienkampagne sah. Das erklärt aber nicht den bis heute anhaltenden Erfolg der Erzählung, die fürs deutsche Kinopublikum aber auch fürs amerikanische Fernsehen verfilmt wurde.
Böll gelingt es, über die Handlung aufzuzeigen, wie Sprache manipuliert werden kann – und wie sie selbst manipuliert. Im Verhör mit den Anklägern und dem ermittelnden Kommissar zum Beispiel beharrt Katharina Blum auf den feinen Unterschieden bei Begrifflichkeiten.
"Es kam zu regelrechten Definitionskontroversen zwischen ihr und den Staatsanwälten, ihr und Beizmenne, weil Katharina behauptete, Zärtlichkeit sei eben eine beiderseitige und Zudringlichkeit eine einseitige Handlung, und um letztere habe es sich immer gehandelt. Als die Herren fanden, das sei doch alles nicht wo wichtig und sie sei schuld, wenn die Vernehmung länger dauere, als üblich sei, sagte sie, sie würde kein Protokoll unterschreiben, in dem statt Zudringlichkeiten Zärtlichkeiten stehe. Der Unterschied sei für sie von entscheidender Bedeutung. Ähnliche Kontroversen hatte es um das ›gütig‹, auf das Ehepaar Blorna angewandt, gegeben. Im Protokoll stand ›nett zu mir‹, die Blum bestand auf dem Wort gütig, und als ihr statt dessen gar das Wort gutmütig vorgeschlagen wurde, weil gütig so altmodisch klinge, war sie empört und behauptete, Nettigkeit und Gutmütigkeit hätten mit Güte nichts zu tun."
Immer noch aktuell
"Die verlorene Ehre der Katharina Blum" war für Heinrich Böll ein Riesenerfolg. Manche Zeitschriften druckten aus politischem Opportunismus in den Wochen nach Erscheinen der Erzählung keine Bestseller-Listen ab, weil dieses Buch und dieser Autor ganz oben standen. Was Böll schrieb, das traf die Menschen ins Herz. Und tut es heute noch. In Zeiten des Internets geht es zwar nicht mehr um eine einzelne Zeitung. Aber was der Missbrauch von Sprache und die Verleumdung von einzelnen Individuen anrichten können, erleben wir Tag für Tag.
"Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann" (1974), Kiepenheuer & Witsch
Heinrich Böll (1917-1985) war einer der wichtigsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegszeit. 1972 erhielt er den Literaturnobelpreis für seinen "zeitgeschichtlichen Weitblick in Verbindung mit sensiblem Einfühlungsvermögen". Zu seinen bekanntesten Romanen zählen "Billard um halb zehn", "Ansichten eines Clowns" und "Gruppenbild mit Dame".