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Heinsberg-Studie: Corona-Dunkelziffer deutlich höher?

4. Mai 2020

Bei einer Infektionsrate von 15 Prozent könnten 1,8 Mio. Menschen bundesweit infiziert sein. Und viele tragen das Virus unbemerkt weiter, weil jeder Fünfte keine Symptome zeigt.

Ortseingangsschild von Heinsberg mit Häusern im Hintergrund
Ein unscheinbarer Ort im Westen Deutschlands: Hier verbreitete sich das Virus auf einer KarnevalsfeierBild: picture-alliance/dpa/J. Güttler

Die kleine Gemeinde Gangelt im Landkreis Heinsberg ganz im Westen von Deutschland gilt als Epizentrum der Corona-Infektionen in Deutschland. Mitte Februar hatten sich viele Bewohner bei einer geselligen Karnevalsfeier angesteckt und rasant schnell verbreitete sich das SARS-CoV-2-Virus.

Unmittelbar nach Bekanntwerden des ersten Corona-Falls ergriffen die Verantwortlichen konsequente Schutzmaßnahmen. Schulen wurden geschlossen, die Menschen blieben zuhause, das öffentliche Leben kam zum Erliegen.

Für die Wissenschaft ist dieser lokal eingrenzbare Virus-Ausbruch ein Glücksfall, da sich dort gut nachvollziehen lässt, wie die Infektionswege genau verlaufen sind, welche Bevölkerungsgruppen häufiger infiziert wurden oder welche Symptome vermehrt auftraten und bei wie vielen Bewohnern die Krankheit tödlich verlief.

"Heinsberg-Protokoll" zu Coronavirus

Deshalb begannen Forscher der Universität Bonn unter Leitung von Professor Hendrik Streeck einen einzigartigen Feldversuch in der kleinen Gemeinde. Die Studie mit dem Namen "Heinsberg-Protokoll" sollte allerdings nicht nur wissenschaftliche Ergebnisse liefern, sie sollte nach Möglichkeit auch Aufschluss darüber geben, welche Schutzmaßnahmen wirksam sind und damit auch Rückschlüsse über die Gemeinde Gangelt hinaus liefern.

Der Bonner Virologe Hendrik Streeck führte die Heinsberg-Studie durchBild: picture-alliance/dpa/F. Gambarini

Als die Forscher der Uni Bonn am 9. April die ersten Zwischenergebnisse präsentierten, überschlugen sich Politik und Gesellschaft mit Schlussfolgerungen für ganz Deutschland. Eine Lockerung der strikten Corona-Maßnahmen schien wieder möglich, 15% aller Deutschen könnten bereits immun sein, etc. In die Begeisterung mischten sich allerdings auch kritische Stimmen, die die Aussagekraft dieser Feldstudie und auch methodische Vorgehensweisen anzweifelten. 

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Welche neuen Erkenntnisse gibt es aus Gangelt?

Zwei Wochen nach Vorstellung der Zwischenergebnisse haben die beiden Bonner Professoren Hendrik Streeck, Direktor des Instituts für Virologie, und Gunther Hartmann, Direktor des Instituts für Klinische Chemie und Klinische Pharmakologie, nun die erste Version eines wissenschaftlichen Manuskripts als Preprint vorgestellt. Das heißt, die Fachwelt muss dieses Arbeitspapier erst noch bewerten (peer review). 

Insgesamt haben die Bonner Forscher 919 Personen aus 404 Haushalten untersucht. Allerdings wurden bei kleinen Kindern keine Blutproben entnommen, wodurch die Kinder in der Testgruppe unterrepräsentiert und ältere Personen über 65 Jahren überrepräsentiert sind. "Die Infektionsraten sind bei Kindern, Erwachsenen und Älteren sehr ähnlich und hängen offenbar nicht vom Alter ab", sagt Prof. Streeck. Es gebe auch keine signifikanten Unterschiede zwischen den Geschlechtern. 

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Erschreckend hohe Dunkelziffer?

Von den Getesteten waren rund 15 Prozent infiziert. Gleicht man diese Zahl mit den offiziell gemeldeten Infizierten ab, ergibt sich eine Dunkelziffer, die in Gangelt etwa fünffach höher liegt.

Corona-Hotspot Heinsberg

02:12

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In Stichproben wurden die aktuellen und überstandenen Infektionen in Gangelt durch die Integration der Ergebnisse von Anti-SARS-CoV-2-Antikörper (IgG)-Analysen im Blut, PCR-Tests auf virale RNA in Rachenabstrichen sowie Berichten über frühere positive PCR-Tests ermittelt.

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Würde man diese Modellrechnung auf ganz Deutschland hochrechnen – was nicht unumstritten ist –, könnten sich deutschlandweit bereits 1,8 Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert haben. Das wären etwa zehnmal mehr als die vom Robert-Koch-Institut (RKI) bekanntgegebenen registrierten Fälle.

Interessant ist, dass 22,2 Prozent aller infizierten Personen einen asymptomatischen Verlauf der Krankheit hatten, also krank waren, aber keine Symptome hatten. Das deckt sich mit anderen Forschungsergebnissen in China und Südkorea, wonach rund ein Fünftel der Infizierten nichts von der Erkrankung merkt und entsprechend einfach unbemerkt andere anstecken kann. 

Karneval als Virenschleuder 

Eindeutig ist auch, dass vor allem eine Karnevalsfeier in Gangelt tatsächlich ein "super-spreading event" war: Bei den Teilnehmern war sowohl die Infektionsrate als auch die Anzahl der Symptome signifikant höher. 

Ärzte und Pfleger in Heinsberg warben schon früh dafür, zuhause zu bleibenBild: Privat

"Um herauszufinden, ob hier die körperliche Nähe zu anderen Sitzungsteilnehmern und eine erhöhte Tröpfchenbildung durch lautes Sprechen und Singen zu einem stärkeren Krankheitsverlauf beigetragen haben, planen wir weitere Untersuchungen in Kooperation mit Spezialisten für Hygiene", sagte Prof. Hartmann. Überraschenderweise stieg das Infektionsrisiko für Personen im gleichen Haushalt aber nicht so rapide an, wie man vermuten könnte. Nicht jeder im gleichen Haushalt steckt sich also gleich an. 

Wie hoch ist die Fallsterblichkeit in Gangelt?

Hauptziel dieser Untersuchung war es, die Fallsterblichkeitsrate (IFR) in einer sogenannten Hoch-Prävalenz-Population zu ermitteln, denn diese ist viel aussagekräftiger als die variablere Infektionszahl. Ausgehend von den sieben SARS-CoV-2-assoziierten Todesfällen in Gangelt, haben die Autoren eine Fallsterblichkeitsrate von 0,37 Prozent für den kleinen Ort errechnet.

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Aber auch diese Zahl lässt sich nicht einfach auf ganz Deutschland hochrechnen, da die Situation in Gangelt als einer Hoch-Prävalenz-Region eben außergewöhnlich ist und weil der Prozentsatz sofort deutlich ansteigen würde, wenn nur eine oder zwei Personen zusätzlich, aber unbemerkt an COVID-19 verstorben wären.

Gangelt ist nicht gleich Deutschland

Nach der zum Teil heftigen Kritik nach Vorstellung der ersten Zwischenergebnisse vermieden es die Bonner Forscher, irgendwelche Ratschläge zu erteilen oder Rückschlüsse für ganz Deutschland zu ziehen.

"Welche Schlüsse aus den Studienergebnissen gezogen werden, hängt von vielen Faktoren ab, die über eine rein wissenschaftliche Betrachtung hinausgehen", stellte Prof. Streeck klar. "Die Bewertung der Erkenntnisse und die Schlussfolgerungen für konkrete Entscheidungen obliegen der Gesellschaft und der Politik."

Die einzigartige Feldstudie in Gangelt hat aber bereits äußerst wertvolle Daten und auch Erkenntnisse geliefert. "Die Ergebnisse können dazu dienen, Modellrechnungen zum Ausbreitungsverhalten des Virus weiter zu verbessern – bislang ist hierzu die Datengrundlage vergleichsweise unsicher", sagte Prof. Dr. Gunther Hartmann.

Auch wenn die Ergebnisse weiter analysiert und in der Fachwelt diskutiert werden müssen, sei diese Studie für die Forschung ungemein nützlich, so der nicht an der Studie beteiligte Professor Dr. Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) in Braunschweig.

Diese Studie liefere auch dank der breiten Unterstützung durch die Bevölkerung in Gangelt sehr überzeugende und brauchbare Zahlen. Gleichwohl warnte Krause sehr davor, aus diesen Ergebnissen gleich auch Hochrechnungen oder richtungsweisende Schlussfolgerungen für ganz Deutschland oder gar darüberhinaus abzuleiten. 

Ergänzender Hinweis der Redaktion vom 8. Mai: Seitdem hat das Papier eine rege und kontroverse Diskussion in der Fachwelt - insbesondere zwischen Statistikern und Virologen - ausgelöst. Auf  Kritik von Statistikern, die die Zahlen in Frage stellten reagierten die Autoren der Studie: Bei der angezweifelten Zahl von 1,8 Millionen Infizierten handele es sich um eine rein theoretische Beispiel-Hochrechnung. Die sei auch ganz klar als solche gekennzeichnet. 

Auch werde in der Studie deutlich gesagt, dass sich die Todesrate bei Infektionen auf den Ort Gangelt in Heinsberg beziehe und nicht auf ganz Deutschland. Denn für eine bundesweite Aussage müssten zusätzliche statistische Unsicherheiten mit einbezogen werden. Daher existierten auch keine Widersprüche zu der Bonner Studie.

 

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