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Lob und Kritik für deutsche Evakuierung

27. August 2021

5347 Zivilisten hat die Bundeswehr bei der größten Evakuierung ihrer Geschichte aus Kabul ausgeflogen. Die Verteidigungsministerin zeigt sich "stolz über den herausragenden Einsatz" - doch es gibt auch scharfe Kritik.

Fallschirmjäger der Bundeswehr auf einem Rollfeld in Taschkent
Nach elf Tagen hat die Bundeswehr ihre Luftbrücke aus der afghanischen Hauptstadt Kabul beendetBild: Marc Tessensohn/Bundeswehr/dpa/picture alliance

Ahmad R. ist erleichtert. Der Softwareentwickler aus Süddeutschland gehört zu den Menschen, die von der Bundeswehr aus der afghanischen Hauptstadt Kabul ausgeflogen wurden. "Ich bin froh, wieder in Deutschland zu sein", sagt er. Dennoch habe er in Kabul Furchtbares erlebt. Drei Tage hintereinander sei er mit seiner Frau zum Flughafen gelaufen. Dort habe Chaos geherrscht, es habe Tote und Verletzte gegeben, er selbst sei mit Tränengas beschossen worden. Am dritten Tag hätten sie es endlich geschafft und seien eingelassen worden. Dann sei es auch schnell gegangen. Nur wenige Stunden später saßen sie in einem Bundeswehrflugzeug nach Taschkent.

Ahmad R. und seine Frau sind zwei von insgesamt 5347 Zivilisten, die die Bundeswehr seit dem 16. August aus Kabul evakuiert hat - in einem "herausragenden Einsatz", wie Annegret Kramp-Karrenbauer betont. "Bis zum letztmöglichen Moment" habe die Bundeswehr "dafür gesorgt, dass wir so viele Menschen wie möglich evakuieren konnten", twitterte die Verteidigungsministerin am Freitagmorgen.

Auf ihrem Rückflug aus Afghanistan hatten die Bundeswehrangehörigen bei ihrem letzten Flug aus Kabul in Taschkent einen Zwischenstopp eingelegt, wo sie von der Verteidigungsministerium begrüßt worden waren. Mittlerweile sind die Soldatinnen und Soldaten wieder zurück in Deutschland. Sie landeten auf dem Luftwaffenstützpunkt in Wunstorf bei Hannover.

Kritik am Krisenmanagement

Doch wie erfolgreich war die Evakuierung tatsächlich - angesichts hunderter im Land verbliebener afghanischer Ortskräfte und zahlreicher deutscher Staatsbürger, die noch immer in Kabul festsitzen?

Vehemente Kritik an der Bundesregierung äußerte etwa Afghanistan-Experte Thomas Ruttig: "Zu einer Zeit, als noch hätte evakuiert werden können, haben sie sich geweigert und zu einer Zeit, da sie wissen, dass es schwierig wird, tun sie so, als würden sie viele evakuieren. Sie haben auch einige ausgeflogen, aber sehr viel weniger, als bei ihnen auf den Listen stehen", so Ruttig im DW-Gespräch. Und auf diesen Listen hätten zu wenige Menschen gestanden.

Dass die Bundesregierung die Zahl der zu evakuierenden Ortskräfte noch bis Mitte August künstlich kleingerechnet habe, kritisiert etwa das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte. "Die Mission startete viel zu spät und endete viel zu früh", sagte deren Sprecher Lucas Wehner der DW. Er bemängelte auch die Informationspolitik des Krisenstabes gegenüber den Betroffenen. "Wir haben von Afghanen gehört, die tagelang am Flughafen gewartet haben und keinerlei Informationen darüber bekamen, ob sie nun auf einer Evakuierungsliste stehen oder nicht."

Auch Ahmad R. hatte sich auf die Krisenvorsorgeliste (ELEFAND) des Auswärtigen Amtes setzen lassen. Zweimal sei er am Flughafen nicht durchgelassen worden. "Niemand ist gekommen, um uns zu helfen, obwohl ich alle Dokumente dabei hatte", erzählt er der DW. "Ich habe überall angerufen, alle Nummern, die ich hatte. Es gab keinerlei Informationen für uns." Ein deutscher Soldat habe ihn stundenlang an einem Tor warten lassen. "Doch es kam niemand mehr", berichtet Ahmad R. "Um 20 Uhr abends haben wir es nicht mehr ausgehalten, im Gedränge, in der Hitze und ohne etwas zu essen." Erst am folgenden Tag habe ihn ein afghanischer Soldat durchgelassen.

Trotz Ausweis abgewiesen

Mehrfach waren ausreiseberechtigte Menschen noch am Flughafen wieder zurückgeschickt worden. Vergangene Woche machte der Fall einer afghanischen Ortskraft Schlagzeilen, die trotz gültiger Papiere von Bundeswehrsoldaten abgewiesen worden war. Einer afghanischen Mitarbeiterin der Deutschen Welle war der Zutritt zum Flughafen verweigert worden, obwohl sie ihren Dienstausweis vorzeigen konnte. Die Deutsche Maryam K. erzählte der DW, sie sei am Montag benachrichtigt worden, dass sie sich bereithalten solle, weil sie mit ihrer Familie in Kürze von einem Evakuierungskommando aus Kabul abgeholt werden sollte.

"Wir haben dann ganz schnell unsere Sachen gepackt," erzählt sie, "aber dann kam nichts mehr. Die Stunden vergingen: Bis fünf Uhr morgens waren wir wach. Es kam aber nichts." Noch am Donnerstagmorgen habe ihre Familie sich auf eigene Faust zum Flughafen begeben. Direkt vor dem Gate habe sie per Telefon erfahren, dass es keine Flüge mehr gebe und sie sich wieder auf den Weg nach Hause machen solle. 

Der letzte Evakuierungsflug der Bundeswehr aus Kabul landete am Donnerstag im usbekischen TaschkentBild: Marc Tessensohn/Bundeswehr/dpa/picture alliance

Dass es große organisatorische und operative Mängel bei der Evakuierung gegeben habe, glaubt auch Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network. "Ich bin in Verbindung mit Leuten, die mithilfe verschiedener Länder ausgeflogen sind", so der im Land gut vernetzte Afghanistan-Experte, "und es scheint mir nach den Berichten, die mir vorliegen, am schwierigsten gewesen zu sein, auf einen deutschen Flug zu kommen." Das Auswärtige Amt wollte sich zu den genannten Vorfällen bislang nicht äußern. Jeder einzelne Fall, heißt es, werde aber sorgfältig geprüft.

Weniger Spezialeinsätze?

Die wichtigste Frage des Einsatzes, so Ruttig, sei gewesen: "Wie kriegt man die Leute durch die relativ unkontrollierbare Menge auch auf den Flughafen? Andere Länder hätten in dieser Frage sehr differenziert und gezielt gehandelt, während das bei den Deutschen kaum passiert sei.

Eine Beobachtung, die auch Maryam K. teilt: "Von den Briten habe ich gehört, dass sie schon in der vergangenen Woche angefangen haben, ihre Leute zusammenzutrommeln und mit gepanzerten Eskortfahrten rauszubringen", erzählt sie der DW. "Meine Cousine stand auf einer niederländischen Liste. Die ist längst in Holland. Das ging ruckzuck." Für Thomas Ruttig ist das unverständlich: "Die Soldaten wissen, wie man so etwas durchführt, und mich wundert es, warum die deutschen Soldaten so etwas nicht machen - außer offenbar für deutsche Staatsbürger, aber selbst da nicht für alle."

Das Einsatzführungskommando der Bundeswehr wollte sich hierzu bislang nicht äußern. "Zum Schutz der Sicherheit aller beteiligten Personen und insbesondere der Soldatinnen und Soldaten", heißt es auf eine Anfrage der DW, könnten "keinerlei Informationen zu taktischen Operationen" herausgegeben werden.

Zu früh abgebrochen?

Vorwürfe, die Bundeswehr habe die Rettungsmission am Donnerstag überstürzt und deutlich zu früh abgebrochen, wollte Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer hingegen nicht stehen lassen. "Eine Verlängerung der Operation in Kabul war nicht möglich. Die sich verschärfende Sicherheitslage vor Ort sowie die unmissverständliche Entscheidung der Taliban haben dies unmöglich gemacht", verkündete sie via Twitter.

Afghanistan: Geflüchtete Ortskräfte in Angst

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Was soll nun mit den noch verbliebenen afghanischen Helfern und deutschen Staatsbürgern geschehen? Bei Maryam K. ist die Enttäuschung groß. "Uns bleibt nichts übrig, als zu hoffen, dass irgendwann die Zivilflüge wieder losgehen." Derzeit verhandelt die Bundesregierung genau darüber mit den regierenden Taliban. "Ansonsten müsste man es auf dem Landweg über Pakistan versuchen," sagt die 31-Jährige, "aber auch dort ist die Grenze zu. Also stecken wir jetzt erstmal hier fest." Die Situation sei alles andere als schön. "Irgendwie", sagt sie "hat man sich schon auf die Evakuierungsflüge und die Versprechen der deutschen Regierung verlassen."

Thomas Latschan Langjähriger Autor und Redakteur für Themen internationaler Politik
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